Von meinen Leuten hat nie jemand diesen Schmuck erwähnt. Ich trug ihn manchmal, trag ihn noch. Sein Gegenstück sah ich vorhin am Hals der Klytaimnestra, sie sah an meinem Hals das Gegenstück des ihren. Mit der gleichen Geste griffen wir danach, blickten uns an, verstanden uns, wie nur Frauen sich verstehn.
Ich fragte Panthoos beiläufig: Welche Tochter? - Iphigenie, sagte er. - Und es ist wahr, was man von ihr erzählt? - Ja. Er hat sie geopfert. Euer Kalchas hat es ihm befohlen.
Sie handeln übereilt und töricht. Glauben das Unglaubliche. Tun, was sie nicht wollen, und betrauern selbstmitleidig ihre Opfer.
Wieder diese Angst.
In der Zitadelle waren neue Truppen aus entlegenen Provinzen eingetroffen, häufig sah man jetzt schwarze und braune Gesichter in den Straßen, Trupps von Kämpfern hockten überall um Lagerfeuer, auf einmal war es nicht mehr ratsam für uns Frauen, alleine unterwegs zu sein. Wenn man es recht betrachtete—nur traute niemand sich, es so zu sehn -, schienen die Männer beider Seiten verbündet gegen unsre Frauen.
Entmutigt zogen die sich in die winterlichen Höhlen der Häuser, an die glimmenden Feuer und zu den Kindern zurück. Im Tempel beteten sie mit einer Inbrunst, die mir nicht gefiel, weil ihnen unser Gott Apoll Ersatz sein sollte für gestohlenes Leben. Ich hielt es nicht mehr aus. Durchs Priesterinnenkleid geschützt, ging ich wieder zu Anchises. Immer war es, wenn ich nach langer Pause zu ihm kam, als hätte ich die Besuche bei ihm niemals unterbrochen. Zwar ein paar junge Frauen, die mir fremd waren, standen auf und gingen, wie selbstverständlich, ohne Verlegenheit, aber es schmerzte doch. Anchises hatte gerade angefangen, diese großen Körbe zu flechten, alle nahmen das als Marotte, aber nun, Aineias, da ihr unterwegs seid: Worin hättet ihr eure Vorräte verstauen solln; worin hättest du deinen Vater tragen können, der so leicht geworden ist, wenn nicht in einem solchen Korb.
So hörte er nicht auf, das Rohr zurechtzulegen, während wir sprachen. Immer fingen wir bei entlegenen Themen an. Immer setzte er mir diesen Wein vom Ida-Berg vor, der mir ins Blut ging, und selbstgebackene Gerstenfladen. Wort für Wort erzählte ich ihm mein Gespräch mit Eumelos.
Da sprang er auf, warf seinen nackten Kopf zurück und brüllte lachend: Ja! Das glaub ich! Ja! Das möchte dieser Gauner!
Immer wenn er lachte, lachte ich mit. Alles war schon leichter, aber das wichtigste kam ja noch, Anchises belehrte mich. Wenn er mich belehrte, nannte er mich »Mädchen«. Also Mädchen, nun paß doch mal auf. Der Eumelos braucht den Achilles wie ein alter Schuh den ändern. Aber dahinter steckt ein primitiver Trick, ein Denkfehler, den er dir in aller hundsgemeinen Unschuld eingeimpft hat. Und der nur funktioniert, solange du ihm nicht auf seine schwache Stelle kommst. Nämlich: Er setzt voraus, was er erst schaffen mußte: Krieg. Ist er soweit gekommen, nimmt er diesen Krieg als das Normale und setzt voraus, aus ihm führt nur ein Weg, der heißt: der Sieg. Dann allerdings diktiert der Feind, was dir zu tun bleibt. Dann steckst du in der Klemme und hast zu wählen zwischen Achill und Eumelos, zwei Übeln. Siehst du nicht, Mädchen, wie Achill dem Eumelos zupaß kommt! Wie er sich keinen bessern Gegner als den Unhold wünschen kann!
Ja, ja, ich sah es. War dem Anchises dankbar, dachte zu Ende, was er mir zu denken überließ. Also hätte man früh dem Übel wehren müssen, als es noch nicht
»Krieg« hieß. Hätte Eumelos nicht aufkommen lassen dürfen. Hätte - wer denn. Der König. Priamos, der Vater. Der Zwiespalt blieb mir. Von Eumelos war er auf König Priamos verschoben. Und in dem Zwiespalt saß die Angst.
Ich hatte Angst, Aineias. Das war es, was du niemals glauben wolltest. Die Art von Angst hast du ja nicht gekannt. Ich hab ein Angst-Gedächtnis. Ein Gefühls-Gedächtnis. Wie oft hast du gelacht, daß ich dir, wenn du wieder mal zurückgekommen warst, nicht den Bericht über die Ereignisse erstatten konnte, den du erwartetest. Wer wen auf welche Weise umgebracht, wer in der Hierarchie am Steigen oder Sinken war, wer sich in wen verliebt, wer wem die Frau gestohlen hatte -
du mußtest es bei anderen erfragen. Ich wußte es natürlich, daran lag es nicht. Wer nicht in die Ereignisse verstrickt ist, erfährt am meisten. Doch ohne meinen Willen nahm mein Gedächtnis diese Tatsachen einfach nicht ernst genug. Als seien sie nicht wirklich. Nicht wirklich genug. Als seien es Schatten-Taten. Oder wie soll ich es dir erklären. Ich gebe dir ein Beispieclass="underline" Polyxena.
Ach, Aineias. Als wäre sie wirklich, sehe ich jeden Zug ihres Gesichts vor mir, in dem das Unglück eingeschrieben stand - wieso sah ich das nur. Und hörte jenen Unterton in ihrer Stimme, der die schmelzende Angst in mir erzeugte, daß es mit ihr, der Schwester, schlecht ausgehn mußte. Wie oft trieb es mich, ihre Hände zu ergreifen und laut hinauszuschreien, was ich sah. Wie hielt ich mich zurück. Wie spannte ich all meine Muskeln gegen diese Angstgewißheit. Mir braucht man nicht zu sagen, warum die Geburt der Zwillinge so schwer war. Meine Muskeln sind verhärtet. Ich hatte das Gefühl, mit meinem Körper jene Stelle abzudecken, durch die, für mich nur spürbar, andre Wirklichkeiten in unsre Welt der festen Körper einsickerten. Die die fünf Sinne, auf die wir uns verständigt haben, nicht erfassen, weshalb wir sie verleugnen müssen.
Worte. Alles, was ich von jener Erfahrung mitzuteilen suchte, war und ist Umschreibung. Für das, was aus mir sprach, haben wir keinen Namen. Ich war sein Mund, nicht freiwillig. Es mußte mich erst niederzwingen, eh ich verlauten ließ, was es mir eingab. Daß ich »die Wahrheit« sprach; ihr mich nicht hören wolltet - das hat der Feind verbreitet. Nicht aus Bosheit, sie verstanden es nicht besser. Für die Griechen gibt es nur entweder Wahrheit oder Lüge, richtig oder falsch, Sieg oder Niederlage, Freund oder Feind, Leben oder Tod. Sie denken anders. Was nicht sichtbar, riechbar, hörbar, tastbar ist, ist nicht vorhanden. Es ist das andere, das sie zwischen ihren scharfen Unterscheidungen zerquetschen, das Dritte, das es nach ihrer Meinung überhaupt nicht gibt, das lächelnde Lebendige, das imstande ist, sich immer wieder aus sich selbst hervorzubringen, das Ungetrennte, Geist im Leben, Leben im Geist. Anchises meinte einmal, wichtiger als die Erfindung des verdammten Eisens hätte die Gabe der Einfühlung für sie sein können. Daß sie die eisernen Begriffe Gut und Böse nicht nur auf sich bezögen. Sondern zum Beispiel auch auf uns.
Nichts davon werden ihre Sänger überliefern.
Und wenn sie - oder wir - es überlieferten? Was folgte daraus? Nichts. Leider oder glücklicherweise nichts. Nicht der Gesang, nur der Befehl bewegt mehr als die Luft.
Das ist nicht mein Satz, das ist Penthesileas Satz. Sie verachtete, was sie mein
»Gehabe« nannte. Deine Träume gegen ihre Wurfspeere! Sie hatte eine fatale unglückselige Art zu lachen. Zu gerne hätte ich es ihr bewiesen. Sie hat recht behalten, könnte man wohl sagen, wenn es auf der Seite der Wurfspeere überhaupt ein Recht gäbe. Zu spät, wieder einmal zu spät habe ich begriffen, daß sie sich, ihr Leben, ihren Körper zur Verfügung stellte, um dieses Unrecht vor aller Augen auf die Spitze zu treiben. Der Abgrund von Hoffnungslosigkeit, in dem sie lebte.
Eines Tages, als ich gerade Dienst hatte, kamen Hekabe und Polyxena in den Tempel. Merkwürdig war es, daß sie dem Apollo opfern wollten und nicht, wie sie es sonst vorzogen, der Athene, unsrer Schutzherrin, deren Tempel viel bequemer in der Stadt lag. Was ihr Opfer - Früchte des Feldes - bewirken sollte, sagten sie mir nicht, ich sah nur, wie sie sich einig waren, und mein Herz zog sich zusammen. Ihre Bitte an die Gottheit - das erfuhr ich viel viel später - war so unnatürlich, daß sie sie nicht einer Göttin, nur einem männlichen Gotte vortragen konnten: Apollon sollte die Schwangerschaft, die sie befürchtete, von Polyxena nehmen. Von Andron, dem sie nach wie vor verfallen war, wollte sie kein Kind. Warum nur trat in jener Stunde der Zwiespalt, in dem sie lebte, als inständiger Ausdruck von Gebrechlichkeit auf ihr Gesicht. Warum mußte Achill das Vieh den Ausdruck sehn. Der Atem stockte mir, als er eintrat. Seitdem er hier den Bruder Troilos getötet hatte, war er Apollon ferngeblieben, obwohl, leider, sag ich, ausgehandelt war, daß dieser Tempel ein neutraler Ort sein sollte, auch den Griechen zur Verehrung ihres Gottes offen. So kam er denn, Achill das Vieh, und sah die Schwester Polyxena, und ich, vom Altar her, von wo man alles sieht, sah, daß er sie sah. Wie sie unserm Bruder Troilos ähnelte.