Nichts regte sich. Ich weinte. Aineias weinte. Sie hatten uns geschafft. Trostlos gingen wir auseinander. Lieber. Als wir uns später wirklich trennten, gab es keine Tränen, Trost auch nicht. Etwas wie Zorn von deiner Seite, Entschlossenheit von meiner, jeder verstand den anderen. Wir waren noch nicht miteinander fertig. So auseinandergehn, ist schwerer, leichter.
Diese Worte haben für uns keinen Sinn. Schwerer, leichter: Wie soll man solche feinen Unterschiede treffen, wenn alles unerträglich wird.
Was soll das. Was geschieht. Was wollen diese Menschen. Mein Wagenlenker führt, heimlich, scheint es, Greisinnen und Greise zu mir heran, alte Leute aus Mykenae, die sich mir mit Ehrfurcht, scheint es, nähern. Marpessa, siehst du das. - Ich sehe es, Kassandra. - Ahnst du, was die wollen. - So gut wie du. - Ich will nicht. - Sag es ihnen, doch es wird nichts nützen. - Unser Wagenlenker macht sich zum Sprecher.
Sie wolln von mir das Schicksal ihrer Stadt erfahren.
Arme Menschen.
Wie sie meinen Troern ähneln.
Siehst du, Aineias, das hab ich gemeint: die Wiederholung. Die ich nicht mehr will. Der du dich ausgeliefert hast.
Sag ich denen, ich weiß nichts, werden sie mir nicht glauben. Sag ich, was ich vorausseh, wie es jeder könnte, bringen sie mich um. Das war das schlimmste nicht, doch ihre eigne Königin würde sie dafür strafen. Oder habe ich hier, anders als zuletzt in Troia, keine Überwacher. Sollte ich in der Gefangenschaft frei sein, mich zu äußern. Liebe Feinde. Wer bin ich, daß ich in euch nur die Sieger, nicht auch die, die leben werden, seh. Die leben müssen, damit, was wir Leben nennen, weitergeht. Diese armen Sieger müssen für alle, die sie getötet haben, weiterleben.
Ich sage ihnen: Wenn ihr aufhörn könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehn.
Gestatte eine Frage, Seherin - (Der Wagenlenker.) - Frag. - Du glaubst nicht dran. -
Woran. - Daß wir zu siegen aufhörn können. - Ich weiß von keinem Sieger, der es konnte. - So ist, wenn Sieg auf Sieg am Ende Untergang bedeutet, der Untergang in unsere Natur gelegt.
Die Frage aller Fragen. Was für ein kluger Mann.
Komm näher, Wagenlenker. Hör zu. Ich glaube, daß wir unsere Natur nicht kennen. Daß ich nicht alles weiß. So mag es, in der Zukunft, Menschen geben, die ihren Sieg in Leben umzuwandeln wissen.
In der Zukunft, Seherin. Ich frage nach Mykenae. Nach mir und meinen Kindern.
Nach unserm Königshaus.
Ich schweige. Seh den Leichnam seines Königs, der ausblutet wie ein Stück Vieh beim Schlächter. Es schüttelt mich. Der Wagenlenker, bleich geworden, tritt zurück.
Ihm muß man nichts mehr sagen.
Jetzt bin ich gleich soweit.
Wer war Penthesilea. Klar ist, daß ich ihr nicht gerecht geworden bin, und sie nicht mir. Scharfäugig und scharfzüngig, war sie mir eine Spur zu grell. Jeder Auftritt, jeder Satz eine Herausforderung an jedermann. Sie suchte unter uns nicht nach Verbündeten. Sie kämpfte nicht nur gegen die Griechen: gegen alle Männer. Ich sah, Priamos hatte Angst vor ihr, und Eumelos umgab sie mit einem dichten Sicherheitskordon. Doch undurchdringlicher als jeder Abschirmdienst umgab sie der Schauder des gemeinen Volkes vor ihrer Unbedingtheit. Wir ahnten, doch die meisten wollten es nicht wissen: Sie hatte hinter sich, was wir noch vor uns hatten. Lieber kämpfend sterben, als versklavt sein, sagten ihre Frauen, die sie alle in der Hand hielt, mit der Bewegung ihres kleinen Fingers aufstachelte oder beruhigte, wie sie es wollte.
Sie herrschte, wie nur je ein König. Diese Weiber hätten ihre eignen Männer umgebracht, flüsterten entsetzt die braven Troer. Sie seien Ungeheuer mit nur einer Brust, die andre, um den Bogen besser zu bedienen, hätten sie sich im zarten Alter ausgebrannt. Darauf erschienen sie entblößten Oberkörpers in dem Tempel der Athene, mit ihren schönen nackten Brüsten, und mit ihren Waffen. Artemis, sagten sie
- so nannten sie Pallas Athene - trage selbst den Speer; sie wünsche nicht, daß wir entwaffnet zu ihr kämen. Die Priester schickten alle Troer aus dem Tempel und überließen ihn den Kriegerinnen für ihre wilden Rituale. Die töten, wen sie lieben, lieben, um zu töten, sagte Panthoos. Ich traf, merkwürdig genug, Penthesilea und Myrine bei Anchises. Sie duldeten sonst Männer nicht in ihrer Nähe. Anchises, der sie listig und vorurteilsfrei ansah, ließen sie gelten. Alle Frauen, die dort waren, kannte ich. Sie wollten, sagten sie, einander kennenlernen.
Es stellte sich heraus, in vielem warn sie einig. Ich sage »sie«, denn ich hielt mich vorerst zurück. Die bewohnte Welt, soweit sie uns bekannt war, hatte sich immer grausamer, immer schneller gegen uns gekehr t. Gegen uns Frauen, sagte Penthesilea.
Gegen uns Menschen, hielt Arisbe ihr entgegen.
Penthesilea: Die Männer kommen schon auf ihre Kosten.
Arisbe: Du nennst ihren Niedergang zu Schlächtern auf ihre Kosten kommen?
Penthesilea: Sie sind Schlächter. So tun sie, was ihnen Spaß macht.
Arisbe: Und wir? Wenn wir auch Schlächterinnen würden?
Penthesilea: So tun wir, was wir müssen. Doch es macht uns keinen Spaß.
Arisbe: Wir sollen tun, was sie tun, um unser Anderssein zu zeigen!
Penthesilea: Ja.
Oinone: Aber so kann man nicht leben.
Penthesilea: Nicht leben? Sterben schon.
Hekabe: Kind. Du willst, daß alles aufhört.
Penthesilea: Das will ich. Da ich kein andres Mittel kenne, daß die Männer aufhörn.
Da kam die junge Sklavin aus dem Griechenlager zu ihr herüber, kniete vor ihr hin und legte Penthesileas Hände an ihr Gesicht. Sie sagte: Penthesilea. Komm zu uns. -
Zu euch? Was heißt das. - Ins Gebirge. In den Wald. In die Höhlen am Skamander.
Zwischen Töten und Sterben ist ein Drittes: Leben.
Der Satz der jungen Sklavin traf mich. Sie lebten also. Ohne mich. Sie kannten sich. Das Mädchen, das ich »junge Sklavin« nannte, hieß Killa. Oinone, schien es, die ich nie mehr in Paris' Nähe sah, war mit ihr befreundet, sie paßten zueinander.
Marpessa, die mir diente, schien in jener Welt ausdrücklich Achtung zu genießen.
Ach, dabeisein können! Dieselbe helle Sehnsucht in Myrines Augen. Es war der erste offne Blick, den wir einander gönnten.
Penthesilea: Nein. - Der Funke in Myrines Augen erlosch sofort. Heftig warf ich Penthesilea vor: Du willst sterben, und die ändern zwingst du, dich zu begleiten.
Das ist der zweite Satz, den ich bereue.
Wie! schrie Penthesilea. So kommst du mir! Gerade du: nicht Fisch, nicht Fleisch!
Viel hätte nicht gefehlt, dann warn wir aufeinander losgegangen.
Und alles das hatte ich bis jetzt vergessen. Weil ich die Todessucht bei einer Frau nicht gelten lassen wollte. Und weil ihr Sterben alles, was man vorher über sie gewußt hat, unter sich begrub. Wenn wir geglaubt hatten, der Schrecken könne sich nicht mehr steigern, so mußten wir jetzt einsehn, daß es für die Greuel, die Menschen einander antun, keine Grenzen gibt; daß wir imstande sind, die Eingeweide des ändern zu durchwühlen, seine Hirnschale zu knacken, auf der Suche nach dem Gipfelpunkt der Pein. »Wir« sag ich, und von allen Wir, zu denen ich gelangte, bleibt dies dasjenige, das mich am meisten anficht. »Achill das Vieh« sagt sich um so vieles leichter als dies Wir.
Warum ich stöhne? Marpessa war dabei - du, Marpessa, warst dabei, als Myrine, ein blutiges Bündel, an die Tür der Hütte kratzte, in die wir uns gerettet hatten. Es war todfinster, diese Nacht erhellten keine Feuer, die Toten wurden erst am Morgen eingesammelt. An Myrines Körper gab es keinen Flecken, wo wir sie berühren konnten, ohne daß sie winselte. Ich seh noch das Gesicht der Bäuerin, in deren Hütte wir Schutz fanden, als Myrine vor uns lag und wir ihre Wunden mit einem Kräutersaft betupften. Wir, Marpessa, du und ich, wir hatten keine Tränen. Ich hoffte, daß es schnell zu Ende ginge. Als wir hörten, daß die Griechen auf der Suche nach versprengten Amazonen zum erstenmal in diese Hütten kamen, warfen wir ungesponnene Wolle bergweis auf Myrine in der Ecke, der Berg bewegte sich von ihrem kleinen Atem nicht. Wir hockten in schmutzigen zerrissenen Kleidern um das Feuer, ich weiß noch, daß ich ein Messer schärfte zum Gemüseschneiden und daß der Blick des Griechen, der hereinbrach, zugleich mit meinem Blick auf diesem Messer lag. Dann sahen wir uns an. Er hatte mich verstanden. Er rührte mich nicht an. Nahm, um das Gesicht zu wahren, die Ziege mit, die Anchises geschnitzt hatte und die in einer Wandvertiefung stand. Als nach Wochen in Myrine das Bewußtsein von dem, was geschehen war, erwachte, konnte sie sich nicht verzeihen, daß sie gerettet war.