Außer Penthesileas Namen sagte sie kein Wort. Ja, ich stöhne wieder, wie wir damals stöhnten, wenn wir den Namen dachten oder hörten. Myrine wich ihr in der Schlacht nicht von der Seite. Als Achill sich Penthesilea vornahm, haben fünf Männer Myrine festgehalten, ich sah die Blutergüsse unter ihrer Haut. Andre Frauen, nicht Myrine, haben es uns erzählt. Achill war außer sich vor Staunen, als er im Kampf auf Penthesilea traf. Er begann mit ihr zu spielen, sie stieß zu. Achill soll sich geschüttelt haben, er glaubte wohl, nicht bei Verstand zu sein. Ihm mit dem Schwert begegnen -
eine Frau! Daß sie ihn zwang, sie ernst zu nehmen, war ihr letzter Triumph. Sie kämpften lange, alle Amazonen waren von Penthesilea abgedrängt. Er warf sie nieder, wollte sie gefangennehmen, da ritzte sie ihn mit dem Dolch und zwang ihn, sie zu töten. Dafür, wenn für irgend etwas, sei den Göttern Dank.
Was dann kam, seh ich vor mir, als war ich dabeigewesen. Achill der Griechenheld schändet die tote Frau. Der Mann, unfähig, die Lebendige zu lieben, wirft sich, weiter tötend, auf das Opfer. Und ich stöhne. Warum. Sie hat es nicht gefühlt. Wir fühlten es, wir Frauen alle. Was soll werden, wenn das um sich greift. Die Männer, schwach, zu Siegern hochgeputscht, brauchen, um sich überhaupt noch zu empfinden, uns als Opfer. Was soll da werden. Selbst die Griechen spürten, hier war Achill zu weit gegangen. Und gingen weiter, um ihn zu bestrafen: Schleiften die Tote, um die er nun weinte, mit Pferden übers Feld und warfen sie in den Fluß. Die Frau schinden, um den Mann zu treffen.
Ja. Ja. Ja. Ein Untier war los und raste durch die Lager. Weißäugig, mit entstellten Zügen, raste dem Pulk voran, der Penthesileas Leiche trug und sich auf dem Weg vom Fluß her, wo sie sie herausgezogen hatten, immer mehr vergrößerte. Amazonen, Troerinnen, alles Frauen. Ein Zug zu keinem Ort, den es auf Erden gibt: dem Wahnsinn zu. Kein Grieche ließ sich blicken. Als sie zum Tempel kamen, wo ich den Dienst versah, waren sie nicht mehr kenntlich. Menschenunähnlich, wie die Leiche war, wurden ihre Begleiterinnen. Ich rede nicht von dem Geheul. Sie warn am Ende, und sie wußten es, aber der Bereich, in dem man weiß, war durch das Wissen ausgelöscht. Ihr Wissen war in ihrem Fleisch, das unerträglich schmerzte - das Geheul! -, in ihren Haaren, Zähnen, Fingernägeln, in Mark und Bein. Sie litten über jedes Maß, und solches Leiden hat sein Gesetz in sich. Alles, was daraus entsteht, fällt auf die zurück, die es verursacht haben; so sprach ich später, vor dem Rat. Damals, angesichts der Frauen, angesichts der Leiche brach eine Qual in mir auf, die mich, was immer noch geschah, nicht mehr verließ. Ich lernte wieder lachen, ungeglaubtes Wunder, doch die Qual war da. Wir sind am Ende.
Sie legten Penthesilea unter eine Weide. Ich sollte die Totenklage für sie beginnen.
Das tat ich, leise, mit gebrochner Stimme. Die Frauen, die im Kreis standen, fielen schrill mit ein. Begannen sich zu wiegen. Wurden lauter, zuckten. Eine warf den Kopf, die ändern folgten. Krampfhaft zogen die Körper sich zusammen. Eine taumelte in den Kreis, neben der Leiche begann sie zu tanzen, stampfend, die Arme schleudernd und sich schüttelnd. Ohrenbetäubend wurde das Gekreisch. Die Frau im Kreis verlor die Selbstkontrolle. Schaum trat ihr vor den Mund, der sperrweit aufgerissen war. Zwei, drei, vier andre Frauen waren, ihrer Glieder nicht mehr mächtig, an dem Punkt, da höchster Schmerz und höchste Lust sich treffen. Ich spürte, wie der Rhythmus auf mich überging. Wie in mir der Tanz anfing, eine heftige Versuchung, nun, da nichts mehr helfen konnte, alles, auch mich selber aufzugeben und aus der Zeit zu gehn. Meine Füße gingen lieber aus der Zeit, so hieß der Rhythmus, und ich war dabei, mich ihm ganz zu ergeben. Sollte die Wildnis wieder über uns zusammenschlagen. Sollte das Ungeschiedne, Ungestaltete, der Urgrund, uns verschlingen. Tanze, Kassandra, rühr dich! Ja, ich komme. Alles in mir drängte zu ihnen hin.
Doch da erschien der unglückselge Panthoos. Weg! schrie ich, und zugleich schrie eine Troerin: Ein Grieche! Der Rhythmus fiel in sich zusammen. Scharf, todnüchtern rasten in mir Pläne, ihn zu retten. Die Frauen ablenken, den Mann verstecken. Zu spät.
Eumelos! Nicht da. Warum nicht. Die Sehergabe! Jetzt, Apoll, laß deine Priestrin nicht im Stich, damit dein Priester durchkommt. Ich hob die Arme, schloß die Augen, schrie, so laut ich konnte: Apollon! Apollon!
Panthoos hatte sich schon zur Flucht gewendet. Hätte er gestanden! Mag sein, die Frauen wären mir, nicht ihm gefolgt. Sekundenlang war eine Totenstille. Dann dieser Schrei, Mord- und Verzweiflungsschrei. Sie überrannten mich. Für tot lag ich neben der toten Penthesilea. Schwester. Daß du nicht hören kannst, das neid ich dir. Ich hörte. Das Trommeln der Verfolgerschritte. Ihren Stillstand. Das Zischen, das Iltiszischen. Wie Holz auf Fleisch schlägt. Wie ein Schädel knackt. Und dann die Stille. Penthesilea. Laß uns tauschen. He. Liebchen. Nichts ist süßer als der Tod.
Komm, Freund, und steh mir bei. Ich kann nicht mehr.
Ich sei sehr leicht gewesen, sagte Aineias später. Nein, es habe ihm nichts ausgemacht, mich so weit zu tragen. Daß ich ihn »Freund« genannt und jemanden ganz ändern damit meinte, habe ihm weh getan. Er schwor sich, mich nicht mehr allein zu lassen. Er hat den Schwur gehalten, wann er konnte. Zuletzt habe ich ihn davon freigesprochen.
So kam ich zu den Frauen in den Höhlen, auf Aineias' Armen. Dich mußte man hertragen, haben sie mir später scherzhaft vorgeworfen. Sonst kamst du nicht.
Sonst war ich nicht gekommen? Aus Hochmut nicht? Ich weiß nicht. Schien sich nicht noch einmal alles zu wiederholen? Aus jener frühen Zeit des Wahnsinns? Mein Lager. Die dunklen Wände. Statt des Fensters ein heller Schein vom Eingang her.
Arisbe, hin und wieder. Oinone, beinah immer. Hände wie ihre gibt es sonst nicht auf der Welt. Nein, wahnsinnig war ich nicht, Beschwichtigung war, was ich brauchte.
Ruhe, die nicht Grabesruhe war. Lebendge Ruhe. Liebesruhe.
Sie hinderten mich nicht, daß ich vollkommen in mir selbst verschwand. Nicht sprach. Kaum aß. Mich beinahe nicht bewegte. Zuerst nicht schlief. Mich den Bildern überließ, die sich in meinem Kopf fest eingefressen hatten. Zeit muß vergehen, hörte ich Arisbe sagen. Was sollte diese Zeit mir nützen. Die Bilder wurden blasser.
Stundenlang, glaube ich, strich Oinones leichte Hand mir über meine Stirn. Dazu ihr Murmeln, das ich nicht verstand, nicht zu verstehen brauchte. Ich schlief ein. Aineias saß bei mir, ein Feuer brannte, die Suppe, die Marpessa brachte, war eine Götterspeise. Niemand schonte mich. Niemand tat sich meinetwegen Zwang an.
Anchises, der auch hier zu leben schien, sprach laut wie eh und je und ließ die Höhle von seinem Lachen dröhnen. Gebrechlich wurde nur sein Körper, nicht sein Geist. Er brauchte Widersacher, suchte sich Arisbe, fing an, mit ihr zu streiten, meinte aber mich. Arisbe, mit ihrer Trompetenstimme, dem starren Pferdehaar, dem rotgeäderten Gesicht, gab ihm Bescheid. Das Feuer flackerte die Wände hoch, was waren das für Steine. Ich sagte und war selbst verwundert, wie natürlich meine Stimme klang: Was sind denn das für Steine. Da entstand ein Schweigen, in das meine Stimme paßte; nun hatte sie genau den Raum gefunden, der für sie vorgesehen war.