So kam es auch. Als ich heraus war, lebte ich lange, weil ich kein Licht vertrug, mit den Händen vor den Augen, und am liebsten in den Höhlen. Myrine, die nicht von mir wich, hat mich gezwungen, nach und nach ins Licht zu sehen. Bis auf das letzte Mal sprachen wir nicht von Penthesilea, nicht von ihren eignen Wunden. Ich sah sie nackt. Sie war von Narben überdeckt. Meine Haut war glatt, bis jetzt, zum Ende. Ich hoffe, sie verstehn ihr Handwerk, dann genügt ein Schnitt. Das war die Zeit, da durfte mich nur eine Frau berühren. Aineias kam, er saß bei mir, er streichelte die Luft über meinem Kopf. Ich liebte ihn mehr als mein Leben. Er lebte nicht bei uns, wie manche jungen Männer, die an Körper oder Seele durch den Krieg beschädigt waren. Sie kamen wie die Schatten, unser pralles Leben gab ihnen Farbe, Blut, auch Lust zurück.
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Bilder. Den Ida-Berg in wechselnder Beleuchtung. Die Hänge mit den Höhlen. Den Skamander, seine Ufer. Das war uns die Welt, schöner kann keine Landschaft sein. Die Jahreszeiten. Der Geruch der Bäume. Und unser ungebundnes Dasein, eine neue Freude jeder neue Tag. Bis hierher reichte die Zitadelle nicht. Sie konnten nicht zugleich den Feind und uns bekämpfen.
Sie ließen uns, nahmen von uns die Früchte, die wir ernteten, die Stoffe, die wir webten. Wir lebten selber arm. Wir sangen viel, kann ich mich erinnern. Redeten viel, abends am Feuer in Arisbes Höhle, in der die Wandfigur der Göttin wie lebendig war.
Killa und andre Frauen beteten zu ihr und legten Opfergaben nieder. Niemand hinderte sie daran. Wir drängten denen, die eine feste Hoffnung brauchten, nicht unser Wissen auf, daß wir verloren waren. Doch unsre Heiterkeit, die niemals ihren dunklen Untergrund verlor, war nicht erzwungen. Wir hörten nicht auf, zu lernen. Jede gab der anderen von ihrem ganz besonderen Wissen ab. Ich lernte Töpfe machen, Tongefäße.
Ich erfand ein Muster, mit dem ich sie bemalte, schwarz und rot. Wir erzählten uns unsre Träume, viele staunten, wieviel sie uns verraten. Oft aber, eigentlich am meisten, redeten wir über die, die nach uns kämen. Wie sie wären. Ob sie uns noch kennten. Ob sie, was wir versäumt, nachholen würden, was wir falsch gemacht, verbessern. Wir zerbrachen uns die Köpfe, wie wir ihnen eine Botschaft hinterlassen könnten, doch wir waren der Schrift nicht mächtig. Wir ritzten Tiere, Menschen, uns, in Felsenhöhlen, die wir, eh die Griechen kamen, fest verschlossen. Wir drückten unsre Hände nebeneinander in den weichen Ton. Das nannten wir, und lachten dabei, uns verewigen. Es wurde daraus ein Berührungsfest, bei dem wir, wie von selbst, die andere, die anderen berührten und kennenlernten. Wir waren gebrechlich. Da unsre Zeit begrenzt war, konnten wir sie nicht vergeuden mit Nebensachen. Also gingen wir, spielerisch, als war uns alle Zeit der Welt gegeben, auf die Hauptsache zu, auf uns. Zwei Sommer und zwei Winter.
Im ersten Winter schickte Hekabe, die manchmal kam und still dasaß, uns Polyxena. Sie hatte den Verstand verloren. Sie war irr geworden vor Angst. Wir fanden heraus, daß sie nur Weiches um sich ertrug, leichte Berührung, Dämmerlicht, gedämpfte Töne. Achill, erfuhren wir, hatte sterbend, im Tempel, Odysseus das Versprechen abgenommen, Polyxena, die ihn verraten hatte, nach der Griechen Sieg auf seinem Grab zu opfern. Ihr Antlitz war zerstört, doch wenn sie ganz von ferne eine Flöte hörte, konnte sie lächeln.
Im ersten Frühling schickte Priamos nach mir. Ich ging und merkte, in den Straßen Troias kannte man mich nicht. Das war mir recht. Der Vater, der Gewesenes mit keinem Wort erwähnte, teilte trocken mit, da sei ein neuer möglicher Verbündeter, wie hieß er doch: Euryplos. Mit einer frischen Truppe, nicht zu verachten. Doch der wollte, wenn er mit uns kämpfen sollte, mich zur Frau.
Wir schwiegen etwas, dann wollte der König wissen, was ich dazu sage. Ich sagte: Warum nicht. Der Vater weinte schwächlich. Zornig hatte ich ihn lieber. Euryplos kam, es gab schlimmere. Er fiel am Tage nach der ersten Nacht mit mir, in einem der Verlegenheitsgefechte, die die Griechen führten, weil sie die Stadt nicht nehmen konnten. Ich ging wieder zum Skamandros, niemand verlor ein Wort über mein kurzes Wegsein. Im letzten Kriegsjahr war kaum eine Frau in Troia schwanger, neidisch, mitleidig, traurig besahen viele meinen Bauch. Als die Zwillinge geboren wurden - es war schwer, ich lag in Arisbes Höhle, einmal rief ich zur Göttin: Kybele hilf! -, hatten sie viele Mütter. Und Aineias war ihr Vater.
Alles, was man erleben muß, habe ich erlebt.
Marpessa legt mir ihre beiden Hände an den Rücken. Ja, ich weiß. Bald kommen sie. Einmal will ich dieses Licht noch sehen. Das Licht, das ich gemeinsam mit Aineias sah, sooft wir konnten. Das Licht der Stunde, eh die Sonne untergeht. Wenn jeder Gegenstand aus sich heraus zu leuchten anfängt und die Farbe, die ihm eigen ist, hervorbringt. Aineias sagte: Um sich vor der Nacht noch einmal zu behaupten. Ich sagte: Um den Rest von Licht und Wärme zu verströmen und dann Dunkelheit und Kälte in sich aufzunehmen. Wir mußten lachen, als wir merkten, daß wir im Gleichnis sprachen. So lebten wir, in der Stunde vor der Dunkelheit. Der Krieg, unfähig sich noch zu bewegen, lag schwer und matt, ein wunder Drachen, über unsrer Stadt. Seine nächste Regung mußte uns zerschmettern. Ganz plötzlich, von einem Augenblick zum ändern, konnte unsre Sonne untergehn. Liebevoll und genau haben wir ihren Gang an jedem unsrer Tage, die gezählt waren, verfolgt. Mich erstaunte, daß eine jede von den Frauen am Skamander, so sehr verschieden wir auch voneinander waren, fühlte, daß wir etwas ausprobierten. Und daß es nicht darauf ankam, wieviel Zeit wir hatten. Oder ob wir die Mehrzahl unsrer Troer, die selbstverständlich in der düstern Stadt verblieben, überzeugten. Wir sahn uns nicht als Beispiel. Wir waren dankbar, daß gerade wir das höchste Vorrecht, das es gibt, genießen durften, in die finstere Gegenwart, die alle Zeit besetzt hält, einen schmalen Streifen Zukunft vorzuschieben.
Anchises, der nicht müde wurde, uns vorzuhalten, das sei immer möglich; der zusehends schwächer wurde und nicht mehr an seinen Körben weiterflechten konnte; oft liegen mußte, aber weiter Lehren austeilte, die beweisen sollten, daß der Geist dem Körper über ist; der weiter mit Arisbe stritt, die er Große Mutter nannte (sie war noch massiger geworden, hüftlahm, überbrückte mit ihrer Trompetenstimme die Entfernung, die sie nicht mehr laufen konnte) - Anchises war es, glaube ich, der von ganzem Herzen unser Leben in den Höhlen liebte, ohne Vorbehalt, ohne Trauer und Bedenken. Der sich einen Traum erfüllte und uns Jüngre lehrte, wie man mit beiden Beinen auf der Erde träumt.
Dann war es vorbei. Ich erwachte eines Mittags unter der Zypresse, unter der ich oft die heiße Tageszeit verbrachte, mit dem Gedanken: Trostlos. Wie alles trostlos ist.
Das Wort kam wieder, riß in mir jedesmal den Abgrund auf.
Dann kam ein Bote zu Oinone: Paris sei verwundet. Verlange nach ihr. Sie müsse ihn retten. Wir sahen zu, wie sie den Korb mit Krautern, Binden und Tinkturen richtete. Gebeugt, ihr schöner weißer Hals, der kaum den Kopf noch tragen konnte. Paris hatte sie ja von sich abgetan, als er die vielen Mädchen brauchte. Ein Gram um diesen Mann war in sie eingefressen, nicht ihretwegen, seinetwegen : Sie verwand nicht, wie er sich veränderte. Sie blieb, wie die Natur, im Wechsel immer gleich. Fremd kam sie zurück. Paris war tot. Die Tempelärzte hatten sie zu spät gerufen. Qualvoll, am Wundbrand, war er eingegangen. Wieder eine, dacht ich, die mit diesem starren Blick geschlagen ist. Ich, die Schwester, sollte zu Paris' Totenfeier kommen. Das tat ich, wollte Troia wiedersehn und fand ein Grab. Und Totengräber die Bewohner, alle; die nur noch lebten, um mit düsterm Pomp in jedem Toten sich selber zu bestatten. Die Begräbnisregeln, die die Priester immer mehr erweiterten und die peinlich einzuhalten waren, fraßen den Alltag auf. Gespenster trugen ein Gespenst zu Grabe.