Was sagen die Mykenerinnen, die sich um mich drängen? Sie lächelt. Ich soll lächeln? Weiß ich denn überhaupt noch, was das ist, lächeln? Das letztemal hab ich gelächelt, als Aineias - seinen Vater, den alten Anchises, auf dem Buckel - mit seiner Handvoll Leute an mir vorbeizog, in Richtung Ida-Gebirge. Unwichtig, daß er mich in dem Haufen gefangener Frauen suchte, nicht erkannte. Ich sah: Er kommt davon, und lächelte.
Was will die Alte, Ausgemergelte von mir, was schreit sie denn. Das Lachen werde mir schon noch vergehen. Ja, sag ich. Das weiß ich. Bald.
Jetzt will ein Wächter den Einheimischen jeglichen Kontakt mit Sklaven verbieten.
So schnell. Das hat mich bei den Griechen immer erstaunt: Sie tun, was getan sein muß, schnell. Und gründlich. Wie lange hätte, bei der ironischen Verfassung unsrer jungen Leute im Palast, das Verbot, mit Sklaven zu verkehren, doch gebraucht, eh man es überhaupt verstanden hätte. Befolgen! Von Befolgen konnte keine Rede sein.
Daran ist sogar Eumelos gescheitert. Unsereins will euch retten, hat er bitter zu mir gesagt, und ihr, hinter meinem Rücken, zieht euch selber den Boden weg. Auf seine Weise hat er recht gehabt. Er wollte uns, wie der Krieg uns brauchte. Wir sollten werden wie der Feind, um ihn zu schlagen. Es lag uns nicht. Wir wollten sein wie wir, unkonsequent, das war das Wort, das Panthoos uns anhängte. Achselzuckend, resigniert. So wird das nichts, Kassandra. Mit den Griechen führt man anders Krieg.
Er mußte es ja wissen. Er war ja wohl der Konsequenz der Griechen ausgewichen. Er sprach darüber nicht. Was ihn wirklich anging, hielt er tief versteckt. Man mußte seine Gründe aus Nachrichten, Gerüchten und Beobachtung zusammensetzen.
Was mir früh auffieclass="underline" seine Angst vor Schmerz. Daß er empfindlich war. Auf körperlichen Wettstreit ließ er es nie ankommen. Ich aber, fällt mir ein, ich war berühmt dafür, daß ich Schmerz ertrug. Daß ich die Hand am längsten über der Flamme hielt. Nicht das Gesicht verzog. Nicht weinte. Panthoos, das fiel mir auf, ging weg. Ich deutete es als Mitgefühl für mich. Es waren überreizte Nerven. Viel später ging mir auf, daß, wie ein Mensch sich gegenüber Schmerz verhält, mehr über seine Zukunft verrät als die meisten ändern Zeichen, die ich kenne. Wann ist bei mir der Hochmut gegen Schmerz zusammengebrochen. Bei Kriegsbeginn, natürlich. Seit ich die Angst der Männer sah: Was war denn ihre Angst vorm Kampf, wenn nicht die Angst vor körperlichem Schmerz. Ihre ausgefallnen Tricks, die Angst zu leugnen oder vor dem Schmerz, dem Kampf zu fliehn. Doch schien die Angst der Griechen die der unsern weit zu übersteigen. Natürlich, sagte Panthoos. Sie kämpfen in der Fremde. Ihr zu Haus. Was tat denn er, der Fremde, unter uns? Man konnte ihn nicht fragen.
Was man wußte: Panthoos war ein Beutestück des Vetters Lampos vom ERSTEN
SCHIFF - so nannte man das Unternehmen im Palast, nachdem ihm ein zweites und ein drittes gefolgt waren und man endlich die Benennung des Volkes, »Schiff nach Delphi«, durch neutrale Namen aus dem Verkehr ziehn wollte. So legte es kurz und bündig Anchises aus, der Vater des Aineias, der mich, die Königstochter, Priesterin, die Geschichte Troias lehrte. Also hör doch mal zu, Mädchen. (Des Anchises langer Kopf. Der hohe, vollkommen kahle Schädel. Die Unzahl der Querfalten auf der Stirn.
Die dichten Brauen. Der helle listige Blick. Die beweglichen Gesichtszüge. Das starke Kinn. Der heftige, oft zum Lachen, öfter zum Schmunzeln aufgerissene oder verzogne Mund. Die schlanken kraftvollen Hände mit den heruntergearbeiteten Nägeln, des Aineias Hände.) Also hör zu. Die Sache ist doch ganz einfach. Da schickt man, meinetwegen dein Vater, obwohl ich bezweifle, daß er die Idee selber hatte; ich tippe auf Kalchas - schickt, sag ich, einen Vetter des Königshauses, diesen Lampos, der als Hafenverweser ganz brauchbar ist, aber als Bote des Königs in delikatem Auftrag?, schickt Lampos mit einem Schiff in hochgeheimer Mission nach Griechenland. Ist dumm - oder sagen wir: unvorsichtig - genug, das Volk zum Jubeln bei der Ausfahrt an den Hafen zu bestelln. - Mich auch, Anchises. Auf dem Arm der Amme. Licht, Jubel, Fähnchen, blitzendes Wasser und ein mächtiges Schiff: Meine erste Erinnerung. - Da haben wirs schon. Ein mächtiges Schiff. Erlaube, daß ich lächle. Ein bescheidenes Schiffchen, fast sag ich: ein Boot. Wenn wir nämlich in der Lage gewesen wären, ein mächtiges Schiff auszurüsten, dann hätten wir es nicht ausgerechnet nach Griechenland geschickt. Dann hätten wir nämlich weder diese zudringlichen Griechen noch die Ehrenbezeugung vor ihrem Orakel nötig gehabt.
Hätten uns nicht auf Verhandlungen eingelassen über unser angestammtes Recht, den Zugang zum Hellespont. Nun also. Das Ergebnis in Kurzfassung: Die Griechen einigten sich nicht über die Bedingungen, Lampos brachte reiche Opfergaben nach Delphi, die unser Vermögen beinah überschritten, dort sah ihn Panthoos, hängte sich an ihn, kam mit ihm zurück: Dem Jubelvolk konnte bei der Heimkehr etwas wie ein Beutestück vorgezeigt werden. Und unsre Palastschreiber, ein Völkchen für sich, das müßtest du wissen, machen nachträglich aus dem halbwegs mißglückten Unternehmen großmäulig das ERSTE SCHIFF.
Oi, oi. Doch in des Anchises strikter Nüchternheit war immer auch etwas wie Poesie, dem konnte ich mich nicht entziehn. Übrigens war er, da er das ZWEITE SCHIFF
selbst mit geleitet hatte, unbestreitbar zuständig. Aber in den Höfen, wo wir uns über nichts so stritten wie über das ERSTE SCHIFF, hörte sich alles wieder vollkommen anders an. Hektor, der älteste meiner Brüder, damals ein kräftiger junger Mann mit eher zu weichem Gemüt, bestritt der Aktion Eins kategorisch jeden Erfolg. Nicht um einen Priester anzuschleppen, sei der Onkel Lampos zum Delphischen Orakel geschickt worden. Nicht? Wozu denn sonst? Hektor hatte es halboffiziell von den Priestern: Lampos habe die Pythia befragen sollen, ob auf dem Hügel, auf dem Troia stand, noch immer ein Fluch lag; ob also die Stadt und ihre Mauer, die gerade grundlegend erneuert wurde, sicher seien. Ungeheuerliche Vorstellung! Uns Jüngeren war Troia, die Stadt und alles, was ihr Name uns bedeutete, aus diesem Hügel Ate herausgewachsen als aus dem einzig vorstellbaren Platz auf Erden, im Angesicht des Berges Ida, der flirrenden Ebene davor und des Meerbusens mit dem natürlichen Hafen. Und mit der Stadt die Mauer - jene schützend, auch beengend -, an der in grauer Vorzeit Götter selbst, Apoll, Poseidon, hätten mitbaun müssen, so daß sie unzerstörbar, uneinnehmbar sei. So redeten die Leute, und ich hörte ihnen gierig zu, und hörte auch die Gegenrede: Wie! Wegen einer Leidenschaft für den Apollonpriester Panthoos sollte Vetter Lampos die Befragung der Pythia über die allerwichtigsten Angelegenheiten Troias einfach vergessen haben? So daß die Mauer, ohne Segensspruch des mächtigen Orakels festgemacht, mitnichten uneinnehmbar, im Gegenteiclass="underline" verletzlich sei? Das Skäische Tor ihr wunder Punkt? Und Panthoos: Nicht als Gefangner, freiwillig sei er unserm eher unscheinbaren Vetter übers Meer gefolgt?
Und Priamos sei schwach genug gewesen, den Fremden zum Apollonpriester einzuweihn, was doch nichts andres heißen konnte, als die Oberhoheit Delphis in Fragen der Religion anzuerkennen? Zum mindesten in Fragen dieses einen Gotts Apoll?
Dies alles war so unvorstellbar. So dumm. So schlecht erfunden, daß ich, ein Kind, nur bitten konnte, mich damit zu verschonen. Doch juckte das Thema so sehr, machte mich so scharf auf jeden Gesprächsfetzen, in dem es aufblitzte, daß ich mich immer wieder in den Kreis der Altren drängen mußte, durch Hektors damals schon mächtige Schenkel schlüpfen, an ihn gelehnt mich hinhocken und mir kein Wort darüber entgehen lassen konnte. Nicht durch Geburt, ach was, durch die Erzählungen in den Innenhöfen bin ich Troerin geworden. Durch das Geraune der Münder am Guckloch, als ich im Korb saß, habe ich aufgehört, es zu sein. Jetzt, da es Troia nicht mehr gibt, bin ich es wieder: Troerin. Nichts sonst.