Wem sag ich das.
Ja. Wenn durch nichts sonst - durch meine Vertrautheit mit den Innenhöfen, mit jeder Regung, die durch sie hindurchging und auch mich ergriff, durch mein absolutes Gehör für die Tonhöhe des Gewispers, das sie immerzu erfüllte, war ich Panthoos dem Griechen jedenfalls am Anfang überlegen. Hab ich ihn nicht sogar einmal gefragt, warum er hier sei - also dort, in Troia. Aus Neugier, meine Liebe, sagte er in dem frivolen Ton, den er sich zugelegt hatte. Aber konnte jemand aus Neugier das Orakel von Delphi, den Mittelpunkt der Welt, verlassen? - Ach meine kleine Ungläubige! Wenn du ihn kenntest, diesen Mittelpunkt. - Oft hat er mich mit Namen belegt, die mir erst später zukamen. Als ich Troia wirklich kannte, meinen Mittelpunkt, verstand ich ihn. Nicht Neugier wärs gewesen, die mich weggetrieben hätte: Entsetzen. Doch wohin hätte ich, mit welchem Schiff, noch fahren solin?
Ich weiß doch wirklich nicht, was dieser Panthoos mich so beschäftigt. Ist es ein Wort, das sich, an seinen Namen gehängt, aus sehr tiefen Tiefen, in die ich nicht hinabgestiegen bin, losmachen will? Ist es ein Bild? Ein frühes, sehr frühes Bild, das schwimmt und das ich, wenn ich meine Aufmerksamkeit ruhig schweifen lasse, vielleicht einfangen kann. Ich blicke abwärts. Etwas wie ein Menschenzug, erhobene Gesichter, dicht an dicht, gedrängt in der engen Straße unter mir. Bedrohlich, gierig, wild. Schärfer. Schärfer. Ja: der stille weiße Mittelpunkt. Ein Knabe, ganz in Weiß, am Strick den weißen jungen Stier. In all der Wildheit der unberührbare weiße Fleck.
Und das erregte Gesicht der Amme, auf deren Arm ich bin. Und Panthoos, aber das seh ich nicht, das weiß ich, Panthoos an der Spitze des Zugs, selbst fast noch ein Knabe, sehr jung, sehr schön sei er gewesen. Und er wird die Menge zum Skäischen Tor führn und den Stier schlachten, aber den Knaben freigeben: Der Gott, Apollon, der die Stadt beschützt, wolle hinfort kein Knabenopfer mehr. »Knabenopfer«, da ist das Wort. Ich sah keins mehr in Troia, obwohl... Dies Opfer abzuschaffen, hat Priamos, der Vater, den Panthoos gebraucht. Und als im neunten Jahr des Kriegs die Griechen gegen das Skäische Tor anrannten, es einzunehmen drohten - das Tor, an dem der Grieche keinen Knaben opfern ließ -, da hieß es: Der Verräter Panthoos.
Mein harmloses gutgläubiges Volk. Ich mochte ihn zuletzt nicht mehr, Panthoos. Ich mochte nicht in mir, was durch ihn verführbar gewesen war.
Wer lebt, wird sehn. Mir kommt der Gedanke, insgeheim verfolge ich die Geschichte meiner Angst. Oder, richtiger, die Geschichte ihrer Entzügelung, noch genauer: ihrer Befreiung. Ja, tatsächlich, auch Angst kann befreit werden, und dabei zeigt sich, sie gehört mit allem und allen Unterdrückten zusammen. Die Tochter des Königs hat keine Angst, denn Angst ist Schwäche und gegen Schwäche hilft ein eisernes Training. Die Wahnsinnige hat Angst, sie ist wahnsinnig vor Angst. Die Gefangene soll Angst haben. Die Freie lernt es, ihre unwichtigen Ängste abzutun und die eine große wichtige Angst nicht zu fürchten, weil sie nicht mehr zu stolz ist, sie mit anderen zu teilen. - Formeln, nun ja.
Sie haben wohl recht, wenn sie sagen, je näher dem Tod, desto leuchtender und näher die Bilder der Kindheit, Jugend. Eine Ewigkeit habe ich sie mir nicht mehr vor Augen geführt. Wie schwer, fast unmöglich, es doch war, das ZWEITE SCHIFF als das zu sehn, was es, nach Hekabes Ausruf, wirklich war: eine Angstpartie. Worum ging es bloß, war es so wichtig, daß sie Männer wie Anchises, wie Kalchas den Seher aufs Schiff schickten. Anchises, der alt geworden zurückkam. Kalchas, der gar nicht zurückkam. Richtig: des Königs Schwester Hesione. Hesione, sagte mein Vater Priamos im Rat und gab seiner Stimme einen weinerlich-pathetischen Klang: Hesione, die Schwester des Königs, festgehalten von dem Spartaner Telamon, der sie geraubt hat. Die Männer im Rat guckten verblüfft. Nun, nun, festgehalten, spottete Hekabe.
Geraubt. Immerhin sei Hesione in Sparta keine erniedrigte Gefangene. Oder? Wenn man recht unterrichtet war, hatte jener Telamon sie zu seiner Frau gemacht? Zur Königin, oder? -Dies war überhaupt nicht die Frage. Ein König, der seine entführte Schwester nicht zurückzugewinnen suche, verliere sein Gesicht. Ach, sagte Hekabe, schneidend. Dann öffentlich nichts mehr. In ihrem Megaron stritten sie sich, und, was das Schlimmste war, der Vater schickte mich hinaus. Seine zwiespältigen Gefühle übertrugen sich auf mich, verdichteten sich zu einer Empfindung, die ihren Sitz in der Magengrube zu haben schien, eine vibrierende Spannung, die ich durch Parthena die Amme »Angst« nennen lernte. Mußt nicht soviel Angst haben, Töchterchen. Das Kind stellt sich zuviel vor.
Fähnchen, Winken, Jubel, blinkendes Wasser, blitzende Ruder - fünfzig, notierten die Palastschreiber, die nichts als zählen konnten, auf ihren Tontäfelchen - bei der Ausfahrt des ZWEITEN SCHIFFES. Anstachelnde Losungen wurden den Männern zugerufen, die an Bord des Schiffes standen: Die Königsschwester oder den Tod!
riefen, die zurückblieben. Neben mir stand Aineias und rief zu seinem Vater hinauf: Hesione oder den Tod! Ich erschrak und wußte, daß ich nicht erschrecken durfte: Aineias handelte im Sinn des Königshauses, dem ich angehörte, wenn er um einer fremden Frau willen, die zufällig des Königs Schwester war, seinem Vater den Tod wünschte. Ich unterdrückte mein Grauen und zwang mich, Aineias zu bewundern.
Damals begannen meine zwiespältigen Gefühle. Auch die des Aineias - er hat es mir später gesagt. Hat mir gesagt, daß die fremde Frau ihm, je länger das Unternehmen zu ihrer Rückeroberung dauerte, um so gleichgültiger, ja geradezu verhaßt wurde, während die Sorge um seinen Vater sich in ihm ausbreitete. Das konnte ich nicht wissen. Damals war es, ja: damals muß es gewesen sein, daß diese Träume begannen, in denen Aineias mir erschien; in denen ich Lust empfand, wenn er mich bedrohte.
Träume, die mich quälten und in einen Zustand untilgbarer Schuld trieben, in eine verzweifelte Selbstfremdheit. O ja. Ich könnte wohl Auskunft darüber geben, wie Abhängigkeit und Angst entstehen. Doch fragt mich keiner mehr.
Ich wollte Priesterin werden. Ich wollte die Sehergabe, unbedingt.
Um die unheimliche Wirklichkeit hinter der glanzvollen Fassade nicht sehn zu müssen, veränderten wir flugs unsre Fehlurteile. Ein Beispiel, das mich empört hat, als ich mich noch empören konnte: Wie die Troer, die doch alle, gleich mir, die Ausfahrt des ZWEITEN SCHIFFES bejubelt hatten, später darauf bestanden: mit diesem Schiff habe das Verderben angefangen. Aber wie hatten sie so schnell vergessen können, was doch auch sie auf dem Schoß ihrer Mütter und Ammen in sich aufgenommen hatten: daß die Kette der für unsre Stadt unheilvollen Ereignisse sich in grauer Vorzeit verlor, Zerstörung und Aufbau und Wiederzerstörung, unter der Regentschaft wechselnder Könige, glücklos die meisten. Was hieß denn sie, was hieß denn uns alle hoffen, gerade dieser König, gerade mein Vater Priamos werde die Unglückskette durchschlagen; gerade er werde ihnen, uns, das Goldene Zeitalter wieder heraufführen? Warum werden gerade diejenigen Wünsche, die sich auf Irrtümern gründen, in uns übermächtig? Nichts haben sie mir später mehr übelgenommen als meine Weigerung, mich ihrem fatalen Wunschentzücken hinzugeben. Durch diese Weigerung, nicht durch die Griechen, verlor ich Vater, Mutter, Geschwister, Freunde, mein Volk. Und gewann — nein; an meine Freuden zu denken, heb ich mir noch auf, bis ich es brauchen werde.
Als das ZWEITE SCHIFF endlich zurückkehrte, selbstverständlich - so sagte auf einmal jedermann! - ohne die Königsschwester, aber auch ohne Kalchas den Seher; als das Volk sich enttäuscht, ich fand: beinah feindselig am Hafen versammelte, murrend (der Spartaner, erfuhr man, habe über der Troer Forderung gelacht); als der düstere Schatten auf meines Vaters Stirn erschien - da habe ich zum letztenmal öffentlich geweint. Hekabe, die über den Fehlschlag, den sie vorausgesehn, nicht triumphierte, verwies es mir, ohne Schärfe, doch bestimmt. Über politische Ereignisse weine man nicht. Tränen trübten das Denkvermögen. Wenn der Gegner sich seinen Stimmungen überlasse - lache! -, um so schlimmer für ihn. Daß wir des Vaters Schwester nicht wiedersehn würden, war jedem Menschen klar gewesen, der seine fünf Sinne beieinander hatte. Das Volk, natürlich, begleite Ein- und Auslaufen eines jeden Schiffes mit seinen hochfliegenden Erwartungen und unvermeidlichen Enttäuschungen. Die Regierenden hätten sich zu beherrschen. - Ich lehnte mich gegen die Regeln der Mutter auf. Rückblickend seh ich: Sie hat mich ernst genommen. Der Vater hat nur Trost bei mir gesucht. Geweint habe ich öffentlich nicht mehr. Und immer seltner heimlich.