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DREI

»Ich verstehe Ihre Frage so, dass es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten. Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht. Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.«

SED-Generalsekretär Walter Ulbricht auf einer Pressekonferenz am 15. Juni 1961 in Ostberlin

›Inzwischen hatten westliche Nachrichtendienste von Informanten in der DDR Hinweise darauf erhalten, dass der entscheidende Moment früher als erwartet eintreten könnte. Am 6. August berichtete ein CIA-Informant, ein in der SED-Organisation seines Bezirks recht bekannter Arzt, er habe in einem Parteiausschuss gehört, dass für das nächste Wochenende »drastische Maßnahmen« zur Abriegelung West-Berlins geplant seien. Mehrere sowjetische und ostdeutsche Armeedivisionen seien in Gefechtsbereitschaft versetzt worden. Einem französischen Führungsoffizier erzählte ein Zahnarzt von einem Gespräch mit einem Patienten, der einen hohen Parteiposten bekleidete. Der Mann habe zu ihm gesagt: »Sie wollen Absperrungen mitten durch Berlin bauen.«‹

(Aus: Frederick Taylor: Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989. München 2009, S. 194)

SUMMERTIME

Berlin

(Samstag, 12. 08.1961)

4

Berlin-Kreuzberg, Stresemannstraße | 00.05 h

Ernst Blaschkowitz konnte sein Glück kaum fassen.

Eigentlich hatte er nur in seine Stammkneipe gehen wollen. Auf ein Bier oder einen kurzen Plausch mit seinen Kumpanen. Einfach so. Wie an jedem Freitagabend, vor allem, wenn es so warm war wie heute.

Doch dann war dort auf einmal diese Brünette aufgetaucht. Weiß der Teufel, woher. Und hatte sich neben ihn an den Tresen gestellt.

Weiß der Teufel, wieso.

Nicht etwa, dass Blaschkowitz ein Kostverächter war. Davon konnte wirklich nicht die Rede sein. Nur leider nicht mehr der Jüngste, schon über 50, um bei der Wahrheit zu bleiben. Er hatte kaum noch Haare auf dem Kopf, eine Warze am Kinn und zu allem Überfluss eine Trinkernase. Und er war auch nicht übermäßig hell im Kopf. Wie geschaffen, um bei den Damen abzublitzen.

Aber davon hatte sich der steile Zahn neben ihm nicht abschrecken lassen. Im Gegenteil. Ernst, sonst eher ein zurückhaltender Mensch, war auf Anhieb wie elektrisiert gewesen. So ein Rasseweib wie dieser schlanke, vollbusige und knapp 30 Jahre alte Vamp, in den er sich auf Anhieb vergafft hatte, gab es nicht zweimal auf der Welt. Und in Kreuzberg sowieso nicht. Jede Wette.

Kein Wunder also, dass der gelernte Buchhalter, auf den die Damenwelt kaum je einen Blick verschwendete, Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um bei seiner Angebeteten, die ihn verflixt noch mal an eine Hollywooddiva à la Jane Russell erinnerte, auf jede nur erdenkliche Weise Eindruck zu schinden. Nur um festzustellen, dass dies im Grunde nicht nötig war. Denn nicht nur zu seiner, sondern zur Überraschung sämtlicher Anwesender waren seine Annäherungsversuche durchaus auf Gegenliebe gestoßen. Wer hier wen umgarnt hatte, war nach einer knappen Viertelstunde überhaupt nicht mehr klar gewesen, auch nicht, was eine mit sämtlichen Gaben der Natur ausgestattete Traumfrau an Ernst Blaschkowitz aus Kreuzberg eigentlich interessierte. Am allerwenigsten Ernst, für den es an diesem Abend, dem letzten seines eintönigen Lebens, nur noch die betörende, verführerisch duftende und ihn unentwegt umgarnende Unbekannte gegeben hatte.

Bereits gegen zehn, also eine knappe halbe Stunde nach ihrem Eintreffen, hatte Natalja, so ihr angeblicher Name, den Vorschlag gemacht, auf ein Gläschen oder zwei in ihr Domizil zu fahren. Nur so zum Spaß. Zu diesem Zeitpunkt hatte Ernst schon einen in der Krone gehabt und der Verlockung, endlich wieder eine Frau abschleppen zu können, natürlich nicht widerstehen können. Wer hier wen abgeschleppt hatte, konnte man zwar nicht mit Bestimmtheit sagen, Ernst sowieso nicht. Aber was machte das schon. Er hatte Feuer gefangen, und der Verdacht, hier könne etwas nicht in Ordnung sein, wäre ihm nie im Leben gekommen. Wie auch, wenn man nicht mehr wusste, was die weibliche Anatomie alles zu bieten hatte. So eine Chance, die größte seines Lebens, hatte sich Ernst Blaschkowitz natürlich nicht entgehen lassen wollen. Ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, die sich aus seiner Blauäugigkeit ergeben würden.

Denn die gab es reichlich, obwohl der liebestrunkene Buchhalter keinen Gedanken daran verschwendet hatte. An die Fahrt mit dem Taxi konnte er sich später ohnehin kaum erinnern, an die Nobelherberge unweit des Potsdamer Platzes, in der seine Angebetete logierte, noch viel weniger. Etablissements wie dieses kannte er nur von außen, Schlafzimmer attraktiver Damen um die 30 allenfalls vom Hörensagen. Nein, auf die Idee, hier könne irgendetwas nicht in Ordnung sein, war Blaschkowitz einfach nicht gekommen. Ebenso wenig wie auf den Gedanken, dass in dem geräumigen, mit Himmelbett, Vorhängen aus chinesischer Seide und Lammfellteppichen ausgestatteten Boudoir der mysteriösen Unbekannten mehrere Kameras und jede Menge Wanzen versteckt sein könnten. In seinem Zustand wäre das auch ein bisschen viel verlangt gewesen, hatte er doch seine liebe Mühe gehabt, eine Flasche Raymond Boulard zu köpfen, mit seiner Eroberung anzustoßen und nach etlichen vergeblichen Versuchen den Reißverschluss ihres malvenfarbenen Kostüms zu öffnen.

»Würdest du mir einen Gefallen tun, Süßer?«, hauchte ihm der brünette Vamp schließlich ins Ohr, ausgerechnet in dem Moment, als sich Ernst Blaschkowitz aus Kreuzberg am Ziel seiner Wünsche wähnte. »Es soll dein Schaden nicht sein.«

»Jeden!«, versprach Blaschkowitz, trunken vor Glück, eine halb nackte Venus in seinen Armen zu halten, die ihn mit sanfter Gewalt auf ihr vergoldetes Messingbett zubugsierte. Und noch einmaclass="underline" »Jeden.«

*

»Aber das hab ich Ihnen doch alles schon gesagt«, lamentierte der völlig konsternierte, aus allen Wolken gefallene Buchhalter immer und immer wieder und klammerte sich mit aschfahler Miene am Bettgestell fest. »Ich … habe keinen blassen Schimmer, wie sie heißt.« Im Kopf des in sich zusammengesunkenen und wie ein Häuflein Elend auf der Bettkante vor sich hinstierenden Möchtegern-Gigolos hörte es nicht auf zu rumoren, sodass er sich kaum auf seine Umgebung konzentrieren konnte. Das galt sowohl für den käseweißen Jungspund auf dem Chippendale-Sofa gegenüber wie auch für seinen Begleiter, einen grimmig dreinblickenden und pockennarbigen Afroamerikaner mit Sonnenbrille. »Das können Sie mir glauben.«

Offenbar war jedoch genau das nicht der Fall. »Oder woher sie kommt«, leierte der muskulöse CIA-Agent, der anscheinend jede freie Minute im Kraftraum verbrachte und sich allein schon deshalb von seinem Begleiter auf dem Chippendale-Sofa unterschied. »Na ja, wenigstens kennen Sie ihren Vornamen. Für den Anfang gar nicht mal so schlecht.«

»Anfang?«

»Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Mann. Falls Sie vorhaben, uns aufs Kreuz zu legen, wird das ernsthafte Konsequenzen haben, kapiert?«

»Konse…«, lallte Blaschkowitz, wagte es jedoch in Anbetracht der rüden Zurechtweisung nicht, weitere Fragen zu stellen. »So glauben Sie mir doch –«, beteuerte er stattdessen mit verzweifelter Miene, »sie ist eine Zufallsbekanntschaft. Mehr nicht.«