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Raisa spürte sein Zögern und fragte: »Worüber machst du dir Kopfzerbrechen?«

»Über die anderen Leute im Haus.«

»Du hast doch das Gesicht dieses Mannes gesehen. Wir haben uns das Foto angeschaut. Du kannst dich einfach da hineinschleichen und ihn im Schlaf töten.«

»Das bringe ich nicht über mich.«

»Leo, er verdient nichts Besseres.«

»Erst muss ich sicher sein. Ich muss mit ihm reden.«

»Er wird es doch nur abstreiten. Je länger du mit ihm redest, umso schwerer wird es.«

Sara hatte ihnen ein Messer gegeben. Leo hielt es Raisa hin. »Das werde ich nicht benutzen.«

Raisa schob es ihm wieder zu.

»Leo, der Mann hat über 40 Kinder auf dem Gewissen.«

»Dafür bringe ich ihn ja auch um.«

»Und wenn er sich verteidigt? Der hat doch bestimmt ein Messer, vielleicht sogar eine Pistole. Und vielleicht ist er kräftig.«

»Er ist kein Kämpfer. Er ist tapsig und schüchtern.«

»Leo, woher willst du das denn wissen? Nimm das Messer mit! Willst du ihn etwa mit bloßen Händen umbringen?«

Leo drückte ihr das Messer in die Hand und schloss ihre Finger darum. »Du vergisst, dass ich so was gelernt habe. Vertrau mir.«

Es gab keine Zukunft für sie. Keine Hoffnung auf Entrinnen, keine Hoffnung, dass sie nach den Ereignissen dieses Abends noch lange zusammen sein würden. Raisa stellte fest, dass sie tief in ihrem Innern gar nicht wollte, dass dieser Mann zu Hause war. Sie wollte, dass er unterwegs war, auf irgendeiner Reise. Dann hätten sie einen Grund, weiter zusammenzubleiben und ihrer Gefangennahme noch für ein paar Tage zu entgehen. Danach konnten sie ja zurückkehren und die Sache zu Ende bringen. Im nächsten Moment schämte sie sich für den Gedanken und schob ihn beiseite. Wie viele Menschen hatten ihr Leben riskiert, nur damit Leo bis hierhin gelangte. Sie küsste ihn und hoffte, dass er es schaffte.

Während Raisa in ihrem Versteck blieb, näherte Leo sich dem Haus. Vorher hatten sie sich auf einen Plan geeinigt. Wenn der Mann versuchen würde zu fliehen, würde sie ihn stellen. Falls etwas schiefging und Leo es aus irgendeinem Grund nicht schaffte, dann würde sie selbst versuchen, den Mann zu erledigen.

Leo erreichte die Haustür. Von drinnen fiel ein fahles Licht heraus. War da etwa noch jemand wach? Vorsichtig drückte er gegen die Tür, die sofort aufging. Er fand sich in einer Küche mit einem Herd wieder. Das Licht kam aus einer Öllampe, ein Flämm-chen, das hinter einem rußigen Glasschirm flackerte. Er trat ein und schlich durch die Küche in ein Nebenzimmer. Zu seiner Überraschung gab es nur zwei Betten. In einem schliefen zwei kleine Mädchen, in dem zweiten ihre Mutter. Sie waren allein, von Andrej keine Spur. War das die Familie seines Bruders? Und wenn ja, war es dann auch Leos Familie? War das seine Schwägerin? Waren das seine Nichten? Aber vielleicht wohnte unten ja noch eine Familie? Leo wandte sich um. Eine Katze starrte ihn mit zwei kalten, grünen Augen an. Ihr Fell war schwarzweiß gefleckt. Sie war zwar besser im Futter als die aus dem Wald, die sie damals gejagt und getötet hatten, aber die Zeichnung stimmte. Leo kam sich vor wie in einem Traum. Überall Bruchstücke seiner Vergangenheit. Die Katze zwängte sich durch eine zweite Tür und lief nach unten. Leo ließ sich von ihr führen.

Die schmale Treppe in den Keller war nur schwach erleuchtet. Die Katze lief hinunter und war im nächsten Moment verschwunden. Von der obersten Treppenstufe war der Raum schlecht einzusehen. War Andrej vielleicht gar nicht zu Hause? Leo schlich möglichst geräuschlos die Treppe hinab.

Als er unten war, spähte er um die Ecke. An einem Tisch saß ein Mann. Er hatte eine dicke, eckige Brille auf und trug ein sauberes weißes Hemd. Er spielte Karten. Jetzt sah er hoch. Er schien nicht überrascht zu sein, er stand auf. Leo starrte auf die Wand hinter seinem Bruder. Es sah aus, als wachse aus Andrejs Kopf eine Collage aus Zeitungsausschnitten: immer und immer wieder dasselbe Foto. Sein Foto, wie er triumphierend neben dem rauchenden Wrack eines Panzers stand, ein Held der Sowjetunion, ein Sinnbild des Sieges.

»Pavel, wieso hast du so lange gebraucht?« Sein kleiner Bruder deutete auf den leeren Stuhl ihm gegenüber.

Leo fühlte sich außerstande, etwas anderes zu tun, als der Aufforderung nachzukommen. Er merkte, dass er nicht mehr Herr der Lage war. Sein Bruder war weit davon entfernt, erschrocken oder auf dem falschen Fuß erwischt worden zu sein, irgendwelche Worte zu stammeln oder gar Reißaus zu nehmen. Offenbar war er auf diese Begegnung vorbereitet. Leo dagegen war konsterniert und fand sich nicht zurecht.

Also setzte er sich. Andrej ebenfalls. Hier ein Bruder, da ein Bruder, nach über zwanzig Jahren wieder vereint. Andrej fragte: »Du hast doch von Anfang an gewusst, dass ich es war, oder?«

»Von Anfang an?«

»Nachdem du die erste Leiche gefunden hattest.«

»Nein.«

»Welche hast du zuerst gefunden?«

»Die von Larissa Petrowa. In Wualsk.«

»Ein junges Mädchen. Ich erinnere mich an sie.«

»Und auch an Arkadi? In Moskau?«

»In Moskau gab es mehrere.«

Mehrere. Er führte das Wort im Mund, als sei das gar nichts. Wenn es mehrere gegeben hatte, dann hatte man sie alle vertuscht.

»Er wurde dieses Jahr im Februar ermordet, auf den Gleisen.«

»Ein kleiner Junge?«

»Er war vier.«

»An den kann ich mich auch erinnern. Da hatte ich meine Methode schon verfeinert. Und trotzdem hast du immer noch nicht gewusst, dass ich es war? Die frühen Morde waren nicht so klar, da war ich noch nervös. Ich durfte ja auch nicht zu eindeutig sein, du verstehst schon. Ich musste etwas machen, das nur du wiedererkennen würdest. Ich konnte ja schlecht einfach meinen Namen hinterlassen. Ich habe sozusagen mit dir kommuniziert, und zwar ausschließlich mit dir.«

»Wovon redest du überhaupt?«

»Mein Bruder, ich habe nie geglaubt, dass du tot bist. Ich wusste immer, du bist am Leben. Und mein ganzes Leben lang hatte ich nur einen Wunsch, ein Zieclass="underline" dich zurückzubekommen.«

Lag da Wut in Andrejs Stimme? Oder Zuneigung? Vielleicht sogar beides zusammen? War es sein einziges Ziel gewesen, Leo zurückzubekommen, oder hatte er sich an ihm rächen wollen? Andrej lächelte. Es war ein warmherziges Lächeln, offen und ehrlich. So als hätte er gerade beim Kartenspiel gewonnen.

»In einer Sache hatte dein dummer, tollpatschiger Bruder dann doch recht. Nämlich was dich betraf. Ich habe versucht, Mutter klarzumachen, dass du noch lebst, aber sie wollte nicht auf mich hören. Sie war sich sicher, dass jemand dich geschnappt und umgebracht hatte. Ich habe ihr gesagt, dass das nicht stimmt, dass du weggerannt bist, mit deiner Beute. Ich versprach ihr, dass ich dich finden würde. Und wenn ich dich gefunden hätte, würde ich nicht wütend auf dich sein, ich würde dir vergeben. Sie hat nicht auf mich gehört. Sie ist verrückt geworden. Sie vergaß, wer ich war, und hielt mich für dich. Nannte mich Pavel und bat mich, ihr zu helfen, so wie du ihr immer geholfen hast. Ich habe so getan, als sei ich du, das war einfacher, weil es sie glücklich machte. Aber sobald ich einen Fehler machte, merkte sie, dass ich gar nicht du war. Dann wurde sie wütend und schlug mich, so lange, bis ihr Zorn verraucht war. Und dann trauerte sie wieder um dich. Sie hörte nie mehr auf, dich zu beweinen. Jeder Mensch braucht einen Grund zum Leben. Ihrer warst du. Aber meiner warst du auch. Der einzige Unterschied zwischen ihr und mir bestand darin, dass ich mir sicher war - du lebst noch.«

Leo hörte zu wie ein Kind, das vor einem Erwachsenen sitzt und sich von ihm hingerissen die Welt erklären lässt. Er konnte nicht einmal mehr die Hand heben, aufstehen oder irgendetwas anderes tun, um seinen Bruder zum Schweigen zu bringen. Andrej fuhr fort.