Generalmajor Kuzmin hatte den Grund für das Zögern seines Schützlings schnell erraten. Leo hatte in seiner Zeit beim Militär selbst zahlreiche Verwundungen davongetragen, die die Feldärzte behandelt hatten, und irgendeine hehre Vorstellung von Kriegskameradschaft blockierte ihn ganz offensichtlich. Kuzmin erinnerte ihn daran, dass solche Gefühlsduseleien einen blind für die Wahrheit machen konnten. Denen, die einem am vertrauenswürdigsten Vorkommen, muss man erst recht misstrauen. Leo erkannte die Anspielung auf Stalins berühmtes Sprichwort:
VERTRAUEN IST GUT, KONTROLLE IST BESSER.
Wenn man unter sich war, machten die Leute daraus:
KONTROLLIERE DIE, DENEN DU VERTRAUST.
Wenigstens korrespondierte die Tatsache, dass alle gleichermaßen unter die Lupe genommen wurden, ob man ihnen nun vertraute oder nicht, mit dem Prinzip, dass alle Menschen gleich waren.
Die Aufgabe eines Ermittlers war es, an der Unschuld zu kratzen, bis die Schuld offen gelegt war. Wenn man keine Schuld entdeckte, dann hatte man womöglich nicht lange genug gekratzt. Im Fall Brodsky war die Frage nicht, ob ausländische Diplomaten ihn aufsuchten, weil er Tierarzt war, sondern ob der Verdächtige Tierarzt geworden war, damit ausländische Diplomaten sich offen mit ihm treffen konnten. Warum eröffnete er seine Praxis wenige hundert Meter von der amerikanischen Botschaft entfernt? Und warum schafften sich, kurz nachdem er die Praxis aufgemacht hatte, mehrere Angehörige der amerikanischen Botschaft Haustiere an? Und wie kam es schließlich, dass Haustieren von ausländischen Diplomaten offenbar öfter etwas fehlte als dem Haustier eines Durchschnittsbürgers? Kuzmin hatte freimütig eingestanden, dass die Sache einer gewissen Komik nicht entbehrte, aber genau das entwaffnend Komische daran hatte ihn stutzig werden lassen. Die Harmlosigkeit des Ganzen wirkte wie eine perfekte Tarnung. Als ob sich jemand über den MGB lustig machen wollte. Und es gab kaum ein ernsteres Verbrechen als das.
Nachdem er über den Fall nachgedacht und die Überlegungen seines Mentors zur Kenntnis genommen hatte, traf Leo die Entscheidung, den Mann nicht auf offener Straße zu verhaften, sondern ihn zu beschatten. Denn wenn dieser Bürger als Spion operierte, war das eine Gelegenheit herauszufinden, mit wem er zusammengearbeitet hatte, und alle auf einen Streich festzunehmen. Und obwohl er es nicht zugab, fühlte er sich unwohl bei dem Gedanken, den Mann ohne weitere Beweise zu kassieren. Natürlich hatte er solche Zweifel schon sein ganzes Berufsleben über ausgehalten. Bei vielen seiner Verhafteten war Leo lediglich Name, Adresse sowie die Tatsache bekannt gewesen, dass dem Betreffenden irgendwo irgendjemand misstraute. Aber jetzt war er kein Lakai mehr, der nur die Befehle anderer ausführte, und so beschloss er, seine Autorität zu nutzen, um ein paar Dinge anders zu halten. Schließlich war er ein Ermittler, also wollte er auch ermitteln. Nie zweifelte er daran, dass er Anatoli Brodsky letztendlich festnehmen würde, aber vorher wollte er einfach Beweise, irgendein Anzeichen von Schuld, das nicht auf bloßen Mutmaßungen gründete. Mit anderen Worten, er wollte ein reines Gewissen haben, wenn er ihn sich schnappte.
Leo hatte bei der Überwachungsaktion die Tagesschicht übernommen und den Verdächtigen von morgens acht bis abends acht beschattet. Drei Tage lang war ihm nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Der Verdächtige arbeitete, kehrte zum Mittagessen ein und ging nach Hause. Kurz, er schien ein braver Bürger zu sein. Vielleicht war es dieser Anschein der Harmlosigkeit gewesen, von dem Leo sich hatte einlullen lassen. Als Kuzmin ihn heute Morgen zornig beiseite gezogen, ihn über die Vorgänge um Fjodor Andrejew unterrichtet und ihm befohlen hatte, die Sache sofort in Ordnung zu bringen, hatte er nicht protestiert. Anstatt dem Generalmajor klarzumachen, dass es ja wohl erheblich Wichtigeres gab, hatte er klein beigegeben. Wie lächerlich das alles im Rückblick wirkte. Wie deprimierend, dass er mit Angehörigen parliert und Kinder gehätschelt hatte, während der Verdächtige, dieser Verräter, flüchtete und Leo dastehen ließ wie einen Schwachkopf. Der mit der Beobachtung betraute Agent hatte sich idiotischerweise nichts bei der Tatsache gedacht, dass die Tierarztpraxis den ganzen Tag lang keinen einzigen Patienten gehabt hatte. Erst bei Einbruch der Dämmerung hatte er Verdacht geschöpft und mit der Absicht, sich als Kunde auszugeben, die Praxis betreten. Das Büro war leer gewesen. Ein rückwärtiges Fenster war aufgestemmt worden. Der Verdächtige konnte jederzeit geflohen sein, vermutlich aber schon morgens, kurz nach seiner Ankunft.
Brodsky ist weg. Als Leo diese Worte gehört hatte, war ihm schlecht geworden. Sofort hatte er mit Generalmajor Kuzmin in dessen Wohnung eine Krisensitzung abgehalten. Jetzt hatte Leo zwar den ersehnten Beweis, aber keinen Verdächtigen mehr. Zu seiner Überraschung hatte sein Mentor eher einen erfreuten Eindruck gemacht. Das Verhalten des Verräters bestätigte seine Theorie: Ihr Geschäft bestand aus Misstrauen. Wenn eine Anschuldigung auch nur ein Prozent Wahrheit enthielt, war es besser, die gesamte Anschuldigung für wahr zu halten, als sie fallenzulassen. Leo erhielt den Auftrag, den Verräter um jeden Preis zu fassen. Er sollte nicht ruhen noch rasten, nichts anderes tun, bis dieser Mann in ihrem Gewahrsam war, wo er, wie Kuzmin selbstgefällig hinzugefügt hatte, schon seit drei Tagen hätte sein sollen.
Leo rieb sich die Augen. Er fühlte einen Knoten im Magen. Bestenfalls stand er als naiv da, schlimmstenfalls als inkompetent. Er hatte seinen Gegner unterschätzt, und in einem untypischen Wutanfall wollte er dem schon umgeworfenen Tisch auch noch einen Tritt verpassen, hielt sich aber zurück. Er hatte gelernt, seine Gefühle zu verbergen. Ein junger Beamter eilte ins Zimmer, vermutlich wollte er seine Hilfsbereitschaft, seinen Eifer demonstrieren. Mit einer Handbewegung scheuchte Leo ihn weg. Er wollte allein sein. Er nahm sich einen Moment Zeit, um sich zu beruhigen, starrte aus dem Fenster auf den Schnee, der nun auf die Stadt fiel. Was war schiefgelaufen? Offenbar hatte der Verdächtige die Agenten bemerkt, die ihn beschatteten, und daraufhin seine Flucht geplant. Da er Dokumente verbrannt hatte, wollte er damit ganz offensichtlich Material vernichten, das entweder auf seine Spionagetätigkeit oder auf seinen Zielort hinwies. Leo war sich sicher, dass Brodsky einen Fluchtplan hatte, eine Möglichkeit, außer Landes zu kommen. Er musste irgendein Teilchen dieses Plans finden.
Die Nachbarn waren ein Rentnerehepaar in den Siebzigern, das bei ihrem verheirateten Sohn, dessen Frau und den zwei Kindern wohnte. Sechs Familienmitglieder in zwei Zimmern, kein ungewöhnlicher Schnitt. Gegenwärtig saßen alle sechs nebeneinander in der Küche, hinter ihnen war ein junger Beamter postiert, der sie einschüchtern sollte. Sie wussten, dass sie alle in das Vergehen eines anderen mit hineingezogen worden waren. Leo konnte es sehen. Auch ihre Angst konnte er sehen. Er wischte diese irrelevanten Gedanken beiseite - schließlich hatte er sich schon genug Sentimentalitäten geleistet - und trat an den Tisch.
»Anatoli Brodsky ist ein Verräter. Wenn ihr ihm in irgendeiner Weise helft, und sei es nur, indem ihr Dinge verschweigt, dann werdet ihr wie Mittäter behandelt. Es liegt nun bei euch, eure Loyalität zum Staat zu beweisen. Es ist nicht an uns, eure Schuld zu beweisen. Die setzen wir für den Moment voraus.«