Выбрать главу

Der Älteste, der Großvater und zweifellos ein Überlebenskünstler, beeilte sich, ihnen alles zu sagen, was er wusste. Indem er Leos Wortwahl aufgriff, gab er an, der Verräter sei an diesem Morgen ein wenig früher zur Arbeit gegangen, aber mit demselben Köfferchen, im selben Mantel und Hut. Der Alte wollte nicht unkooperativ erscheinen, deshalb trug er allerlei Annahmen und Meinungen vor, wo der Verräter stecken könnte, aber Leo merkte, dass das nur verzweifelte Mutmaßungen waren. Zum Abschluss erklärte der Großvater, wie wenig alle in der Familie Brodsky als Nachbarn hätten leiden können und wie sehr sie ihm misstraut hätten. Und übrigens sei die Einzige, die ihn gemocht habe, Zina Morosowna, die Dame unter ihnen.

Zina Morosowna war in den Fünfzigern und zitterte wie ein Kind, was sie erfolglos durch Rauchen zu verbergen suchte. Als Leo hereinkam, stand sie neben der billigen Reproduktion eines berühmten Stalin-Porträts - glatte Haut, weise Augen, den Füllfederhalter in der Hand -, das augenfällig über dem Kamin hing. Vielleicht dachte sie, das könne sie schützen. Leo gab sich nicht die Mühe, sich vorzustellen oder seinen Ausweis zu zeigen, sondern machte, um sie zu verunsichern, sofort Druck. »Wie kommt es, dass Sie so gut mit Anatoli Brodsky befreundet sind, wo jeder andere in diesem Haus ihm aus dem Weg ging und misstraute?«

Zina war überrumpelt. Ihre ganze Besonnenheit war wie weggeblasen von der Wut über so eine Lüge. »Jedermann in diesem Haus hat Anatoli gemocht. Er war ein guter Mann.«

»Brodsky ist ein Spion. Und Sie nennen ihn gut? Ist Verrat vielleicht eine Tugend?«

Zina, die ihren Fehler zu spät bemerkt hatte, versuchte ihre Worte abzuschwächen. »Ich habe nur gemeint, dass er immer sehr darauf geachtet hat, Lärm zu vermeiden. Er war höflich.«

Hingestotterte, irrelevante Einlassungen. Leo ignorierte sie. Er holte einen Notizblock hervor und protokollierte ihre unbedachten Worte in großen, fetten Buchstaben. ER WAR EIN GUTER MANN.

Er malte es deutlich auf, damit sie genau erkennen konnte, was er schrieb. Die Abschreibung der nächsten fünfzehn Jahre ihres Lebens. Diese wenigen Worte waren mehr als genug, um sie als Kollaborateurin zu verurteilen. Als politische Gefangene würde sie für sehr lange Zeit verurteilt werden. Mit über 50 hatte sie kaum eine Chance, den Gulag zu überleben. Keine dieser Drohungen musste er laut aussprechen. Das pfiffen die Spatzen von den Dächern.

Zina trat den Rückzug in eine Zimmerecke an, drückte ihre Zigarette aus, bereute es sofort und zündete sich eine neue an. »Ich weiß nicht, wo Anatoli hin ist, aber ich weiß, dass er keine Familie hat. Seine Frau ist im Krieg umgekommen. Sein Sohn ist an Tuberkulose gestorben. Besuch hatte er fast nie. Soweit ich es mitbekommen habe, hatte er nur wenige Freunde ...«

Sie hielt inne. Anatoli war ihr Freund gewesen. Viele Nächte hatten sie miteinander verbracht, hatten zusammen gegessen und getrunken. Es hatte eine Zeit gegeben, wo sie hoffte, er würde sich vielleicht in sie verlieben, aber er hatte kein Interesse gezeigt. Er war nie über den Verlust seiner Frau hinweggekommen. Versonnen blickte sie Leo an.

Der ließ sich davon nicht beeindrucken. »Ich will wissen, wo er ist. Seine tote Frau und sein toter Sohn sind mir schnurz. Seine Lebensgeschichte interessiert mich nicht, es sei denn, sie hat damit zu tun, wo er sich gerade befindet.«

Ihr Leben stand auf dem Spiel - und es gab nur einen Weg zu überleben. Aber konnte sie einen Mann verraten, den sie liebte? Zu ihrer eigenen Überraschung fiel die Entscheidung schneller, als sie vermutet hatte. »Anatoli blieb immer für sich. Allerdings erhielt er Briefe und schrieb auch welche. Gelegentlich hat er sie mir anvertraut, damit ich sie zur Post bringe. Der einzige regelmäßige Briefwechsel war mit jemandem in einem Dorf namens Kimow. Es liegt irgendwo nördlich von hier, glaube ich. Er hat mal erwähnt, dass er da einen Freund hat. An den Namen des Freundes kann ich mich nicht mehr erinnern. Das ist die Wahrheit. Es ist alles, was ich weiß.«

Vor Scham brachte sie die Worte kaum hervor. Äußerlichen Gefühlsbezeugungen war zwar niemals wirklich zu trauen, aber Leos Instinkt sagte ihm, dass sie gerade einen Verrat beging. Er riss den belastenden Bogen von seinem Notizblock und reichte ihn ihr. Sie nahm ihn als Blutgeld an. In ihren Augen sah er den Abscheu. Er ließ es nicht an sich heran.

Der Name des Bauerndorfes nördlich von Moskau war eine dürftige Spur. Wenn Brodsky wirklich als Spion arbeitete, war es wahrscheinlicher, dass er von den Leuten versteckt wurde, für die er tätig war. Seit langem war der MGB davon überzeugt, dass es ein Netz sicherer Häuser gab, die vom Ausland unterhalten wurden. Die Idee, dass ein aus dem Ausland unterstützter Verräter sich bei einem persönlichen Bekannten verbarg, einem Kolchosbauern, passte überhaupt nicht in das Bild eines professionellen Spions. Und trotzdem war Leo sich sicher, dass er diese Spur verfolgen sollte. Er wischte die Ungereimtheiten beiseite. Sein Auftrag war, diesen Mann zu fassen. Außerdem war es der einzige Hinweis, den er hatte. Seine Unentschlossenheit war ihn schon teuer genug zu stehen gekommen.

Er eilte zum draußen geparkten Lastwagen und las sich noch einmal den Fallbericht durch, auf der Suche nach einem Hinweis, der auf das Dorf Kimow deutete. Wassili Iljitsch Nikitin, der zweite Befehlshabende, unterbrach ihn. Er war 35 Jahre alt, also etwa fünf Jahre älter als Leo, und einst einer der vielversprechendsten Offiziere im MGB gewesen. Rücksichtslos und ehrgeizig. Seine einzige Loyalität galt dem MGB. Insgeheim vermutete Leo, dass es sich dabei weniger um Patriotismus als vielmehr um Eigeninteresse handelte. Schon in seiner Anfangszeit als Ermittler hatte Wassili seine Hingabe dadurch unter Beweis gestellt, dass er seinen einzigen Bruder wegen antistalinistischer Bemerkungen denunziert hatte. Offenbar hatte der Bruder sich auf Stalins Kosten einen Scherz erlaubt. Er hatte an dem Tag seinen Geburtstag gefeiert und war betrunken gewesen. Wassili hatte einen Bericht verfasst, und den Bruder hatte man zu zwanzig Jahren Arbeitslager verurteilt. Die Verhaftung war so lange zu Wassilis Vorteil gewesen, bis der Bruder drei Jahre später ausgebrochen war und dabei mehrere Wachen und den Lagerarzt umgebracht hatte. Er war nie gefasst worden, und die Schmach hing Wassili an. Hätte er nicht fieberhaft die Suche nach dem Flüchtigen unterstützt, hätte es ihn möglicherweise ganz die Karriere gekostet. So aber hatte er weitermachen dürfen, allerdings erheblich gestutzt. Da er keine weiteren Brüder hatte, die er denunzieren konnte, war Leo sich sicher, dass sein Stellvertreter auf der Suche nach anderen Möglichkeiten war, um sich wieder einzuschmeicheln.

Gerade hatte Wassili die Durchsuchung der Tierarztpraxis beendet und war offenkundig mit sich zufrieden. Er reichte Leo einen zerknitterten Brief, den er, wie er berichtete, eingeklemmt hinter dem Schreibtisch des Verräters gefunden hatte. Während sämtliche anderen Briefe genau wie die in der Wohnung verbrannt worden waren, hatte der Verdächtige diesen in der Eile übersehen. Leo las ihn. Der Brief stammte von einem Freund, der ihn wissen ließ, dass er jederzeit bei ihm wohnen könne. Die Adresse war teilweise verschmiert, aber der Name der Stadt war deutlich zu lesen: Kiew. Leo faltete den Brief zusammen und reichte ihn seinem Stellvertreter. »Das hat Brodsky selbst geschrieben. Kein Freund. Er wollte, dass wir ihn finden. Er ist nicht auf dem Weg nach Kiew.«

Der Brief war in aller Eile geschrieben worden. Die Handschrift war uneinheitlich und nur schlecht verstellt. Der Inhalt war lachhaft und lediglich dazu da, den Leser davon zu überzeugen, dass der Verfasser ein Freund war, an den Brodsky sich in der Stunde der Not wenden konnte. Die Adresse war mit Absicht verschmiert worden, um eine schnelle Identifizierung des echten Adressinhabers zu verhindern, und damit ein Beweis, dass der Brief eine Fälschung war. Und sein Fundort - hinter den Schreibtisch gerutscht - roch ebenfalls nach einer Inszenierung.