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Wassili verwahrte sich dagegen, dass der Brief nicht echt sein könnte. »Es wäre nachlässig, die Kiew-Spur nicht gewissenhaft zu prüfen.«

Leo war sich zwar sicher, dass der Brief eine Fälschung war. Aber vielleicht war es ja gar nicht so dumm, Wassili als Vorsichtsmaßnahme nach Kiew zu schicken. So wappnete er sich gegen jedwede Anschuldigungen, Beweise unterdrückt zu haben. Er verwarf den Gedanken wieder. Es spielte gar keine Rolle, wie er die Ermittlungen durchführte. Wenn es ihm nicht gelang, den Verdächtigen zu finden, war seine Karriere am Ende.

Leo wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Bericht zu. Nach Aktenlage war Brodsky mit einem Mann namens Michail Swjatoslawitsch Zinowjew befreundet. Diesen hatte man wegen schwerer Erfrierungen aus der Roten Armee entlassen. Er war schon dem Tode nah gewesen, als man ihm mehrere Zehen amputiert und ihn danach wieder hochgepäppelt hatte. Die Operation hatte Brodsky durchgeführt. Leo fuhr mit dem Finger über das Dokument und suchte nach der aktuellen Adresse. Kimow. Er wandte sich zu seinen Männern um und registrierte Wassilis mürrischen Gesichtsausdruck. »Wir rücken aus.«

30 Kilometer nördlich von Moskau

15. Februar

Die Straßen aus Moskau heraus waren mit vereistem Matsch bedeckt, und obwohl die Reifen des Lasters Schneeketten hatten, waren sie kaum über 25 Kilometer pro Stunde hinausgekommen. Wind und Schnee fegten mit solcher Heftigkeit um sie herum, als hätten sie ein persönliches Interesse daran, dass Leo sein Ziel nicht erreichte. Die am Dach der Fahrerkabine befestigten Scheibenwischer hatten Mühe, wenigstens ein winziges Fleckchen des Fensters freizuhalten. Bei einer Sichtweite von weniger als zehn Metern kämpfte sich der Laster vor. Und es war nur Leos schiere Verzweiflung, die ihn unter derartigen Bedingungen eine solche Fahrt wagen ließ.

Leo hockte vornübergebeugt neben Wassili und dem Fahrer, auf dem Schoß hatte er verschiedene Karten ausgebreitet. Alle drei trugen sie Mäntel und Handschuhe, als befänden sie sich im Freien. Die Fahrerkabine mit ihrem eisernen Dach und Boden wurde nur vor der Restwärme des ratternden Motors angeheizt, aber wenigstens hielt sie das Wetter ab. Seine neun bis an die Zähne bewaffneten Agenten im Heck reisten weniger luxuriös. Die ZiS-151-Laster hatten nur eine Plane, durch die kalte Luft und sogar Schnee eindrang. Nachdem man festgestellt hatte, dass die Temperaturen dort hinten bis auf minus 30 Grad fallen konnten, war das Heck aller ZiS-151 mit Holzöfen ausgestattet worden, die man auf der Ladefläche verschraubt hatte. Doch dieses Scheingerät wärmte nur die, die so nah saßen, dass sie es beinahe berührten, was die Männer dazu zwang, sich zusammenzukauern und regelmäßig zu rotieren. Leo hatte oft genug selbst dahinten gesessen.

Alle zehn Minuten waren die beiden jeweils am nächsten Sitzenden langsam, aber beharrlich von ihrem Platz verdrängt und in die kälteste Ecke ganz am Ende der Sitzbänke verbannt worden, während die restliche Mannschaft nachrückte.

Zum ersten Mal spürte Leo bei seiner Mannschaft inneren Widerstand. Die Gründe waren aber nicht die widrigen Umstände oder der Schlafmangel. Daran waren die Männer gewöhnt. Nein, dahinter steckte etwas anderes. Vielleicht die Tatsache, dass man die Mission hätte vermeiden können. Vielleicht glaubten sie nicht an die Kimow-Spur. Auch früher hatte er seine Männer schon um ihr Vertrauen gebeten, und sie hatten es ihm geschenkt. Heute Abend spürte er eine unterschwellige Feindseligkeit, einen Widerstand. Außer von Wassili war er das nicht gewohnt. Er schob den Gedanken beiseite. Seine Beliebtheit war im Moment sein geringstes Problem.

Wenn seine Theorie stimmte, wenn der Verdächtige in Kimow war, dann hielt Leo es für wahrscheinlich, dass er sich beim ersten Tageslicht auf den Weg machen würde, entweder allein oder mit Hilfe seines Freundes. Leo setzte darauf, dass sie das Dorf rechtzeitig erreichten, aber es blieb ein Risiko. Er hatte sich dagegen entschieden, die in Sagorsk stationierte örtliche Miliz in Marsch zu setzen, weil sie seiner Ansicht nach unprofessionell, undiszipliniert und schlecht ausgebildet war. Selbst den örtlichen MGB-Divisionen konnte man bei so einer Operation nicht trauen. Da Brodsky schon wusste, dass man ihn suchte, würde er sich kaum ergeben. Vielleicht würde er auf Leben und Tod kämpfen. Aber man musste ihn lebend fassen. Sein Geständnis war von allergrößter Bedeutsamkeit. Außerdem hatte seine Flucht Leo beschämt, und er war entschlossen, ihm das heimzuzahlen. Er würde ihn höchstpersönlich verhaften. Es ging hier nicht nur um Stolz und die Tatsache, dass seine Karriere von dem Erfolg der Aktion abhing. Die Konsequenzen würden tiefgreifender sein.

Wenn Leo in einem solch wichtigen Spionagefall versagte, würde man ihm vielleicht vorwerfen, er habe die Ermittlungen bewusst sabotiert. Wenn er den Verdächtigen nicht wieder einfing, würde er nur noch tiefer in die Sache hineingezogen werden. Man würde seine Loyalität in Frage stellen.

Kontrolliere die, denen du vertraust. Niemand war von dieser Regel ausgenommen. Nicht einmal die, die sie durchsetzten.

Wenn Brodsky nicht in Kimow war, wenn Leo sich geirrt hatte, dann wäre Wassili der erste, der detailliert aussagen würde, dass sein Vorgesetzter der vielversprechenden Kiew-Spur kei-nerlei Beachtung geschenkt hatte. Und andere im Direktorat würden ihn, sobald sie seine Schwäche witterten, einkreisen wie Raubtiere ein verwundetes Wild und ihn aller Wahrscheinlichkeit nach als schlechte Führungskraft denunzieren, während Wassili sich als Leos logischer Nachfolger ins Spiel brachte. In der Hierarchie der Staatssicherheit konnte sich ein Schicksal über Nacht wenden. Für beide Männer hing viel davon ab, wo dieser Verräter steckte.

Leo blickte verstohlen zu seinem Stellvertreter hinüber, einem ebenso gut aussehenden wie abstoßenden Mann, so als wäre sein schöner Anblick auf seinen durch und durch verdorbenen Kern aufgetragen worden, ein Heldengesicht mit dem Herzen eines Henkers. Nur feine Risse waren in der hübschen Fassade sichtbar, ein Anflug von Hohn in den Mundwinkeln, der, wenn man ihn kannte, die dunklen Gedanken unter dem schönen Schein verriet. Vielleicht spürte Wassili, dass er beobachtet wurde, denn er wandte sich um und lächelte Leo an, ein zweideutiges Lächeln. Etwas vergnügte ihn. Leo wusste sofort, dass etwas nicht stimmte.

Er inspizierte die Karte. Mit seinen weniger als 1 ooo Einwohnern war Kimow auf der sowjetischen Landkarte nur ein Staubkorn. Er hatte den Fahrer schon vorgewarnt, dass er nicht mit Straßenschildern rechnen konnte. Selbst bei nur fünfzehn Stun-denkilometern konnte das Dorf an einem vorbeiziehen, während man gerade schaltete. Und als Leo jetzt die Finger über die Straßenlinien gleiten ließ, beschlich ihn der Verdacht, dass sie ihre Abzweigung verpasst hatten. Sie hätten schon längst westwärts fahren sollen, waren aber immer noch in Richtung Norden unterwegs. Da es praktisch unmöglich war, sich an der umliegenden Landschaft zu orientieren, versuchte er auszurechnen, bei welchem Kilometer sie waren. Viel zu weit nördlich. Der Fahrer war übers Ziel hinausgeschossen.

»Umdrehen!«

Leo registrierte, dass der Befehl weder den Fahrer noch Wassili sonderlich zu überraschen schien. Der Fahrer grummelte: »Aber wir haben keine Abzweigung gesehen.«

»Wir haben sie verpasst. Halt an!«

Vorsichtig bremste der Fahrer ab. In kurzen Abständen trat er auf die Bremse, um zu vermeiden, dass sie auf dem Eis ins Rutschen kamen. Langsam kam der Wagen zum Stehen, Leo sprang heraus und fing an, den Fahrer in diesem Schneesturm bei seiner Wende einzuweisen. Der ZiS-151 war fast so breit wie die Straße. Bei der Hälfte der Kehre, als der Laster im rechten Winkel zur Straße stand, ignorierte der Fahrer offensichtlich Leos Handzeichen und setzte zu weit und zu schnell zurück. Leo rannte nach vorn und hämmerte gegen die Tür, aber es war schon zu spät. Eines der Hinterräder kam von der Straße ab und hing nutzlos herumwirbelnd in einer Schneewehe. Leos Wut wurde abgemildert durch das wachsende Misstrauen, das er gegen den Fahrer hegte. Der Mann legte gerade ein kaum vorstellbares Maß an Inkompetenz an den Tag. Den Laster und auch den Fahrer hatte Wassili besorgt. Leo öffnete die Fahrertür und brüllte gegen den Wind an: »Raus!«