Der Fahrer kletterte heraus. Mittlerweile waren auch die Beamten vom Heck heruntergesprungen, um die Situation zu begutachten. Alle starrten Leo mit kaum verhohlener Missbilligung an.
Waren sie verärgert über die Verzögerung, über die ganze Mission oder gar wütend auf ihn als Kommandanten? Leo kam nicht dahinter. Er beorderte einen der anderen Männer, sich ans Rad zu stellen, während die restliche Mannschaft einschließlich Wassilis den Laster aus dem Schnee schob. Das Rad wirbelte und spritzte ihnen dreckigen Schneematsch auf die Uniform. Endlich griff die Schneekette auf dem Asphalt und der Laster machte einen Satz nach vorne. Leo befahl dem in Ungnade gefallenen Fahrer, sich nach hinten zu setzen. Eigentlich reichte so ein Fehler aus für eine Anzeige und eine Verurteilung, die ihn in den Gulag brachte. Wassili musste dem Fahrer Straffreiheit zugesichert haben, eine Garantie, die allerdings nur dann etwas wert war, wenn Leo versagte. Er fragte sich, wie viele aus der Mannschaft wohl noch eher auf seinen Misserfolg als seinen Erfolg gesetzt hatten. Offenbar war er in seiner eigenen Einheit isoliert und auf sich allein gestellt. Leo übernahm das Steuer. Er würde selbst fahren, selbst den Weg finden. Er würde sie dort schon hinbringen. Trauen konnte er niemandem. Wassili stieg neben ihm ein und entschied sich klugerweise, den Mund zu halten. Leo legte den Gang ein.
Als sie schließlich auf der richtigen Straße nach Westen waren und sich Kimow näherten, hatte der Sturm sich gelegt. Eine schwache Wintersonne stieg langsam auf. Leo war erschöpft. Die Fahrerei durch den Schnee hatte ihn ausgelaugt. Seine Arme und Schultern waren steif, die Augenlider schwer. Sie kamen durch bäuerliches Kernland - nur Felder und Wälder. Als sie in ein sanftes Tal hineinfuhren, sahen sie Kimow. Eine Ansammlung geduckter Häuser, manche an der Straße gelegen, andere zurückgesetzt, alle mit viereckigem Grundriss und hohen Giebeldächern, ein Anblick, an dem sich seit ioo Jahren nichts geändert hatte. Das war das alte Russland: um Ziehbrunnen und uralte Mythen herumgebaute Ansiedlungen, wo die Gesundheit des Viehs noch vom Wohlwollen des Dworowoi abhing, des Hofgeists. Wo Eltern ihren Kindern erzählten, dass die Geister sie mitnehmen und in Rinde verwandeln würden, wenn sie nicht brav waren. Die Eltern hatten als Kinder dieselben Geschichten gehört und waren ihnen nie entwachsen. Monatelang bestickten sie Kleider, nur um sie den Waldnymphen, den Rusalki, darzubieten, die sich angeblich von den Bäumen schwangen und, wenn ihnen danach war, einen Menschen zu Tode kitzeln konnten. Leo war in der Stadt aufgewachsen und konnte mit diesem ländlichen Aberglauben nichts anfangen. Erstaunlich, dass es der ideologischen Revolution ihres Landes so wenig gelungen war, diese primitive Folklore zu verscheuchen.
Leo hielt den Laster am ersten Bauernhaus an. Aus seiner Jackentasche kramte er eine Glasphiole mit kleinen, gezackten, schmutzig-weißen Kristallen hervor. Reine Meta-Amphetamine, ein Aufputschmittel, das sich bei den Nazis großer Beliebtheit erfreut hatte. Leo hatte es während seines Einsatzes an der Ostfront kennengelernt, als die Rote Armee die Invasoren zurückgedrängt und sich nicht nur Kriegsgefangene zu Eigen gemacht hatte, sondern auch einige ihrer Gewohnheiten. Es gab Operationen, bei denen Leo sich keine Ruhepausen leisten konnte. So wie diese. Leo hatte das Mittel auch nach dem Krieg regelmäßig eingenommen, immer wenn eine heikle Operation sich die ganze Nacht über hinzog. Mittlerweile bekam er es von den Ärzten des MGB verschrieben. Wenn es hart auf hart ging, war der Nutzen des Medikaments nicht hoch genug einzuschätzen, allerdings um den Preis eines völligen Zusammenbruchs etwa vierundzwanzig Stunden später. Einer totalen Erschöpfung, der man nur entgegenwirken konnte, indem man mehr einnahm oder zwölf Stunden am Stück schlief. Mittlerweile hatten sich Nebenwirkungen eingestellt. Er verlor allmählich an Gewicht, und seine Gesichtszüge waren hagerer geworden. Sein Gedächtnis ließ nach, kleine Details und Namen fielen ihm nicht mehr ein, die Bilder vergangener Fälle und Verhaftungen gerieten ihm im Geiste durcheinander oder verschwammen, und mittlerweile musste er sich Merkzettel schreiben. Es war unmöglich zu entscheiden, ob durch die Drogen sein Verfolgungswahn zugenommen hatte oder nicht, denn schließlich war Paranoia ein entscheidender Vorteil, eine Tugend, die man sich antrainieren und kultivieren musste. Wenn sie durch die Meta-Amphetamine verstärkt wurde, umso besser.
Er schüttete sich etwas davon in die Hand, noch etwas, wie war noch gleich die richtige Dosierung? Besser zu viel als zu wenig. Zufrieden spülte er das Mittel mit dem Inhalt seiner Feldflasche hinunter. Der Wodka brannte ihm in der Kehle, überdeckte aber nicht den beißenden chemischen Geschmack, der ihm Brechreiz verursachte. Leo wartete, bis das Gefühl nachließ, und suchte die Umgebung ab. Alles lag unter einer frischen Schneedecke. Das gefiel ihm. Außerhalb von Kimow selbst gab es nur wenige Stellen, wo man sich verstecken konnte. Ein Mann war meilenweit sichtbar und seine Spuren leicht zu verfolgen.
Er hatte keinen Schimmer, welcher der Höfe Michail Zinowjew gehörte. Das Überraschungsmoment konnte man angesichts eines auf der Straße abgestellten Militärlasters ohnehin vergessen, also sprang Leo heraus, zog seine Pistole und näherte sich dem nächststehenden Haus. Obwohl die Amphetamine noch nicht angefangen hatten zu wirken, fühlte er sich schon wacher, konzentrierter, weil sein Gehirn bereits auf die unweigerliche narkotische Woge wartete. Er trat auf die Veranda und überprüfte seine Waffe.
Noch bevor er geklopft hatte, erschien eine ältere Frau mit lederner Haut in der Tür. Sie trug ein blau gemustertes Kleid mit weißen Ärmeln und um den Kopf einen bestickten Schal. Leo gefiel ihr nicht, und seine Waffe, seine Uniform und sein Militärlaster genauso wenig. Sie war vollkommen furchtlos und unternahm keine Anstrengungen, die Zornesfalten auf ihrer Stirn zu verberge.
»Ich suche Michail Swjatoslawitsch. Ist das hier sein Hof? Wo steckt er?«
Als spräche Leo in einer Fremdsprache, legte sie den Kopf schief, gab aber keine Antwort. Das war jetzt schon das zweite Mal in 24 Stunden, dass eine Alte ihm die Stirn bot und ihn offen ihre Verachtung spüren ließ. Etwas war an diesen Frauen, das sie unberührbar machte. Seine Autorität bedeutete ihr nicht mehr als irgendwelchem Meeresgetier auf dem Grund des Ozeans. Zum Glück löste sich das Patt auf, als der Sohn, ein kräftig gebauter Mann mit nervösem Blick, aus dem Haus geeilt kam. »Sie müssen entschuldigen. Sie ist alt. Was kann ich für Sie tun?«
Schon wieder entschuldigte sich ein Sohn für seine Mutter.
»Michail Swjatoslawitsch. Ich suche ihn. Wo ist er? Welcher Hof gehört ihm?«
Als er endlich begriff, dass Leo ihn gar nicht verhaften wollte, dass seine Familie wenigstens heute noch sicher war, war der Sohn überaus erleichtert. Eifrig deutete er auf den Hof seines Freundes.
Leo kehrte zum Laster zurück, wo sich seine Männer bereits versammelt hatten. Er teilte die Mannschaft in drei Gruppen auf. Sie würden sich dem Haus aus verschiedenen Richtungen nähern, eine Gruppe von vorn, eine von hinten, die dritte würde zur Scheune vorstoßen und sie einkreisen. Jeder der Männer war mit einer speziell für den MGB entwickelten 9-Millimeter-Automatikpis- tole Marke APS Stechlin bewaffnet. Außerdem trug jeweils ein Mann pro Gruppe eine AK-47-Maschinenpistole. Falls es dazu kam, waren sie auf eine offene Schlacht vorbereitet.