»Wir müssen den Verräter lebend fassen. Wir brauchen sein Geständnis. Im Zweifelsfall, egal welchem, wird nicht geschossen.« In aller Ausdrücklichkeit wiederholte Leo seinen Befehl gegenüber der von Wassili angeführten Gruppe. Anatoli Brodsky zu töten war nun Befehlsverweigerung und würde bestraft werden. Gegenüber dem Leben des Verdächtigen war ihre eigene Sicherheit zweitrangig.
Als Reaktion darauf übernahm Wassili die AK-47 seiner Gruppe. »Nur um sicherzugehen.«
In dem Bemühen, Wassili möglichst wenig Gelegenheit zu geben, dass er die Operation sabotierte, beschloss Leo, ihn den unwichtigsten Bereich absichern zu lassen. »Deine Gruppe durchsucht die Scheune.«
Wassili ging los. Leo hielt ihn am Arm zurück. »Wir fassen ihn lebend!«
Auf halbem Weg zum Haus verteilten sich die elf Männer in drei ungleich starke Gruppen und rückten in drei verschiedenen Richtungen weiter vor. Ein paar Nachbarn linsten verstohlen durch die Fenster und verschwanden dann wieder im Innern ihrer Häuser. 30 Schritt vor der Tür blieb Leo stehen, damit seine Leute in Position gehen konnten. Wassilis Gruppe kreiste die Scheune ein, während die dritte Gruppe die Rückseite des Hauses erreichte. Alle warteten auf Leos Signal. Hier draußen gab es kein Lebenszeichen. Aus dem Schornstein entwich ein dünnes Rauchwölkchen. Vor den Fenstern hingen zerlumpte Fetzen, die einen Blick ins Innere verwehrten. Außer dem Klicken der Entsicherungshebel herrschte vollkommene Stille. Plötzlich kam ein kleines Mädchen aus einem kleinen, rechteckigen Schuppen - dem Plumpsklo, das etwas abseits vom Haupthaus stand. Sie summte vor sich hin, der Schnee trug die Melodie weiter. Die drei Leo am nächsten stehenden Beamten wirbelten herum und legten auf sie an. Das kleine Mädchen erstarrte vor Angst. Leo hob die Hände. »Nicht schießen!«
Er hielt den Atem an und hoffte, kein Maschinengewehrfeuer zu hören. Stille. Keiner rührte sich. Und dann fing das kleine Mädchen an zu laufen, rannte so schnell es konnte auf das Haus zu und schrie nach seiner Mutter.
Leo spürte die erste Woge des Amphetamins. Augenblicklich war seine Müdigkeit wie weggeblasen. Er sprang vor, die Männer kreisten das Haus ein wie eine Schlinge, die sich um einen Hals legt. Das kleine Mädchen riss die Vordertür auf und stolperte hinein. Leo war nur Sekunden hinter ihr, stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür, hob seine Pistole und stürmte ins Haus. Er fand sich in einer kleinen, warmen Küche wieder, die von Frühstücksduft erfüllt war. Vor einem kleinen offenen Herd standen zwei Mädchen, das ältere vielleicht zehn und das andere vier Jahre alt. Ihre Mutter, eine zähe, hart wirkende Frau, die aussah, als könne sie Kugeln schlucken und wieder ausspucken, hatte sich schützend vor sie gestellt und hielt jeder eine Hand vor die Brust. Aus dem Schlafzimmer kam ein Mann um die vierzig hinzu. Leo wandte sich an ihn. »Michail Swjatoslawitsch?«
»Ja?«
»Mein Name ist Leo Stepanowitsch Demidow, ich bin Offizier des MGB. Anatoli Tarasowitsch Brodsky ist ein Spion. Er wird gesucht. Er soll verhört werden. Sagen Sie mir, wo er ist.«
»Anatoli?«
»Ihr Freund. Wo ist er? Und lügen Sie nicht.«
»Anatoli wohnt in Moskau. Er ist Tierarzt. Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen.«
»Wenn Sie mir sagen, wo er ist, will ich vergessen, dass er überhaupt hierher gekommen ist. Ihnen und Ihrer Familie wird dann nichts geschehen.«
Michails Frau warf ihrem Mann einen schnellen Blick zu. Das Angebot war verlockend. Leo überkam ein grenzenloses Gefühl der Erleichterung. Er hatte richtig vermutet. Der Verräter war hier. Ohne eine Antwort abzuwarten, bedeutete Leo seinen Männern, das Haus zu durchsuchen.
Mit erhobener Waffe, den Finger am Abzug, betrat Wassili die Scheune. Er näherte sich einem Haufen Stroh, dem einzigen Ort, wo man sich verstecken konnte. Nacheinander feuerte er einige kurze Salven ab. Strohbüschel stoben hoch und die Mündung der Maschinenpistole rauchte. Hinter ihm schnaubten die Kühe, drängten sich zusammen und scharrten mit den Hufen. Aber Blut kam nicht herausgelaufen. Hier war niemand, sie verschwendeten nur ihre Zeit. Er ging nach draußen, schulterte die Maschinenpistole und zündete sich eine Zigarette an.
Alarmiert von den Schüssen kam Leo aus dem Haus gelaufen. Wassili rief ihm zu: »Hier ist niemand.«
Vollgepumpt mit chemischer Energie, die Zähne fest zusammengepresst, hetzte Leo zur Scheune.
Wütend, dass man ihn ignorierte, warf Wassili die brennende Zigarette in den Schnee und sah zu, wie sie sich bis zum Boden durchfraß.
»Da drin ist er nicht, es sei denn, er hat sich als Kuh verkleidet. Vielleicht solltest du sie erschießen, nur für den Fall.«
Nach Gelächter heischend blickte Wassili sich um, und seine Männer taten ihm den Gefallen. Aber er ließ sich nichts vormachen. Er wusste, dass keiner das besonders lustig gefunden hatte. Umso besser, denn wenn sie trotzdem lachten, bedeutete es, dass sich das Kräfteverhältnis allmählich verschob. Ihre Ergebenheit gegenüber Leo schwand. Vielleicht lag es an der anstrengenden Fahrt. Vielleicht auch an Leos Entscheidung, Brodsky weiter frei herumlaufen zu lassen, wo man ihn doch besser verhaftet hätte. Aber Wassili fragte sich, ob es auch etwas mit Fjodor und dem Tod des kleinen Jungen zu tun hatte. Leo war losgeschickt worden, um die Sache zu bereinigen. Viele der Männer waren Freunde von Fjodor. Wenn es da einen Groll gab, konnte man sich den zunutze machen und manipulieren.
Leo bückte sich und untersuchte die Spuren im Schnee. Da waren frische Stiefelabdrücke. Einige stammten von seinen Leuten, aber unter ihnen befand sich eine Spur, die von der Scheune in Richtung Felder führte. Er stand auf und betrat die Scheune. Wassili rief ihm hinterher: »Ich habe sie schon durchsucht.«
Leo ignorierte ihn und berührte das aufgebrochene Torschloss. Er sah die auf dem Boden ausgebreiteten Getreidesäcke, kam wieder nach draußen und starrte in Richtung Felder. »Drei Mann folgen mir, die schnellsten drei. Wassili, du bleibst hier. Durchsucht weiter das Haus.«
Er zog seine schwere Winterjacke aus. Ohne ihn damit bewusst brüskieren zu wollen, reichte er sie seinem Stellvertreter. Nun konnte er ungehindert laufen. Er begann, den Spuren in die Felder hinein zu folgen.
Die drei Agenten, die er beordert hatte, ihm zu folgen, machten sich nicht die Mühe, ihre Jacken auszuziehen. Erwartete ihr Vorgesetzter etwa von ihnen, dass sie ohne Jacke durch den Schnee liefen, wo er noch nicht einmal in der Lage war, den toten Sohn ihres Kollegen selbst in Augenschein zu nehmen? Man hatte den Tod eines kleinen Jungen abgetan, als sei das gar nichts. Sie würden sich hier doch keine Lungenentzündung holen, nicht aus blindem Gehorsam für einen Mann, dessen Autorität sich vielleicht ohnehin schon ihrem Ende zuneigte, einen Mann, der keinen Finger für sie rührte. Trotzdem war er immer noch ihr befehlshabender Offizier, jedenfalls momentan. Und nachdem sie einen Blick mit Wassili gewechselt hatten, begannen die drei Männer in gespieltem Gehorsam schwerfällig loszulaufen. Der Mann vor ihnen hatte schon ein paar 1oo Meter Vorsprung.
Leo wurde schneller. Die Amphetamine bündelten seine Kräfte, es gab nichts mehr um ihn herum als die Spuren im Schnee und den Rhythmus seiner Schritte. Er konnte weder anhalten noch langsamer werden, konnte nicht scheitern, konnte nicht einmal die Kälte fühlen. Obwohl er schätzte, dass der Gesuchte mindestens eine Stunde Vorsprung hatte, machte ihm das keine Sorgen. Der Mann hatte ja keine Ahnung, dass man ihm auf den Fersen war. Mit Sicherheit bewegte er sich nur im Schritttempo vorwärts.