Seine Hand streifte etwas. Irgendein Material, Stoff, ein Hosenbein. Es war Brodsky, reglos unter dem Eis. Aber als ob Leos Berührung ihn wieder zum Leben erweckt hätte, fing er jetzt an zu kämpfen. Leo schwamm unter ihn und umklammerte seinen Hals. Seine Brust schmerzte heftig. Er musste irgendwie wieder an die Oberfläche. Den Hals des Verdächtigen mit einem Arm umklammernd, versuchte er, das Eis über ihm zu durchstoßen, aber die Schläge glitten an der glatten, harten Oberfläche ab.
Brodsky bewegte sich nicht mehr, kämpfte nicht mehr. Er konzentrierte sich, widersetzte sich jedem Impuls seines Körpers. Er öffnete den Mund und füllte seine Lungen mit dem eiskalten Wasser, hieß reglos den Tod willkommen.
Leo konzentrierte sich auf die Sonnenstrahlen weiter flussaufwärts. Mit kräftigen Stößen schob er sie beide vorwärts, hin zum Licht. Sein Gefangener war bewusstlos. Leo wurde schwindelig. Er konnte die Luft nicht länger anhalten. Noch ein Stoß - er fühlte Sonnenlicht auf dem Gesicht, wurde nach oben gedrückt und die beiden Männer durchbrachen die Wasseroberfläche.
Leo japste nach Luft, immer wieder. Aber Brodsky atmete nicht. Leo kämpfte sich durch die zerborstenen Eisklumpen, zerrte ihn ans Ufer. Seine Füße fanden Grund. Er zog sich das Ufer hinauf und zerrte seinen Gefangenen mit sich. Beider Haut war blassblau angelaufen. Leo konnte das Zittern nicht unterdrücken. Der Gesuchte dagegen lag vollkommen reglos da. Leo öffnete den Mund des Mannes, ließ das Wasser auslaufen und blies ihm Luft in die Lungen. Er pumpte dessen Brustkorb, blies ihm Luft in die Lungen, pumpte den Brustkorb, Luft in die Lungen. »Komm schon.«
Hustend und spuckend kam Brodsky wieder zu sich, krümmte sich und erbrach das eiskalte Wasser aus seinem Magen. Aber Leo hatte keine Zeit, darüber erleichtert zu sein. In ein paar Minuten würden sie an Unterkühlung sterben. In der Ferne sah er seine drei Agenten näher kommen.
Die Männer hatten gesehen, wie Leo im Fluss verschwunden war, und ihnen war klar geworden, dass ihr Vorgesetzter die ganze Zeit über recht gehabt hatte. Im Bruchteil einer Sekunde verlagerte sich das Machtgefüge wieder von Wassili weg und zurück zu Leo. Ihre Verstimmung darüber, wie er Fjodor behandelt hatte, war wie weggeblasen. Ohnehin hatten sie nur gewagt, ihre Empfindungen durchscheinen zu lassen, weil sie erwartet hatten, dass die Operation scheitern und Leo seiner Macht beraubt werden würde. Das war aber nicht der Fall. Seine Position würde stärker als je zuvor sein. Sie rannten, so schnell sie konnten. Ihr Leben hing davon ab.
Leo sank neben dem Gefangenen zu Boden. Dem fielen die Augen zu, er verlor langsam wieder das Bewusstsein. Leo schlug ihm ins Gesicht, der Mann musste unbedingt wach bleiben. Er schlug ihn noch einmal. Der Verdächtige öffnete die Augen, aber sofort fielen sie ihm wieder zu. Leo ohrfeigte ihn wieder und wieder. Ihnen blieb keine Zeit mehr. Er stand auf und rief seinen Männern zu: »Beeilung!«
Seine Stimme wurde immer leiser. Er merkte, wie seine Energie wich, und jetzt, wo die chemische Unverwundbarkeit langsam nachließ, holte ihn auch die Kälte ein. Die Droge hatte den Zenit ihrer Wirksamkeit überschritten und konnte der Wirklichkeit nicht mehr Einhalt gebieten. Tiefe Erschöpfung nahm seinen Körper in Besitz. »Zieht eure Jacken aus. Macht Feuer.«
Alle drei zogen ihre Jacken aus. Eine legten sie Leo um, die anderen beiden Brodsky. Aber das würde nicht reichen. Sie brauchten ein Feuer. Die drei Agenten sahen sich nach Holz um. In einiger Entfernung stand ein Lattenzaun, und zwei von ihnen rannten darauf zu, während der dritte begann, den Ärmel seines groben Baumwollhemds in Streifen zu reißen. Leo ließ keinen Blick von dem Gefangenen, diesem kostbaren Gut, und schlug ihn weiter, damit er wach blieb. Auch er selbst war todmüde. Er wollte ausruhen, die Augen zumachen.
»Beeilung!« Er hatte schreien wollen, aber seine Stimme war kaum hörbar.
Die beiden Agenten kamen mit Latten zurück, die sie aus dem Zaun gerissen hatten. Sie machten ein Stück Erde frei, indem sie mit den Füßen allen Schnee beiseite schoben, und schichteten Holz auf den gefrorenen Boden. Darauflegten sie die Baumwoll-streifen. Um diese herum bauten sie vorsichtig eine Pyramide aus dünnen Holzscheiten. Einer der Beamten holte sein Feuerzeug hervor und goss Benzin auf die Lappen. Ein Funke entsprang dem Feuerstein, die Baumwolle fing Feuer und begann zu brennen. Das Holz qualmte. Aber es war feucht und wollte nicht anbrennen. Rauch kräuselte hoch. Leo spürte keine Wärme. Das Holz brauchte zu lange, bis es austrocknete. Er riss das Futter aus der Jacke und legte es auf die Flamme. Wenn das Feuer ausging, würden sie beide sterben.
Jetzt hatten sie nur noch ein Feuerzeug übrig. Der Beamte nahm es vorsichtig auseinander und schüttete das letzte Benzin über das flackernde Feuer. Die Flammen schlugen höher und bekamen weitere Nahrung durch eine zerknüllte Zigarettenschachtel und zerrupftes Zigarettenpapier. Alle drei Agenten knieten vor dem Feuer und schürten es. Die Latten fingen an zu brennen.
Anatoli öffnete die Augen und stierte in die Flammen. Das Holz knisterte in der Hitze. Obwohl er hatte sterben wollen, war das Gefühl von Wärme auf seiner Haut wunderbar. Als das Feuer wuchs und die Glut rot zu leuchten begann, begriff er konsterniert, dass er überleben würde.
Leo saß da und konzentrierte sich auf die Glut. Seine Kleider dampften. Zwei der Beamten, darauf erpicht, sich seine Anerkennung zurückzuverdienen, schleppten weiter Feuerholz herbei und trockneten es neben dem Feuer, bevor sie es in die Flammen warfen. Der dritte stand Wache. Als die Gefahr gebannt war, dass das Feuer ausgehen würde, befahl Leo den Männern, die immer noch Holz sammelten, zum Hof zurückzukehren und ihre Rückfahrt nach Moskau vorzubereiten. An seinen Gefangenen gewandt fragte er: »Können Sie laufen?«
»Früher bin ich mit meinem Sohn angeln gegangen. Abends haben wir ein Lagerfeuer so wie das hier gemacht und uns drangesetzt. Das Angeln hat ihm keinen sonderlichen Spaß gemacht, aber ich glaube, die Lagerfeuer mochte er. Wenn er nicht gestorben wäre, wäre er heute etwa in Ihrem Alter.«
Leo antwortete nicht. Der Gefangene fuhr fort: »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern noch ein bisschen dableiben.«
Leo legte mehr Holz aufs Feuer. So viel Zeit hatten sie.
***
Auf dem Weg zurück sprach keiner der Männer. Für die Strecke, die Leo in weniger als einer halben Stunde zurückgelegt hatte, be-nötigen sie jetzt beinahe zwei Stunden. Die Meta-Amphetamine bauten sich ab, und jeder Schritt kam ihm schwerer vor als der vorherige. Nur der Gedanke an seinen Erfolg hielt ihn jetzt noch auf den Beinen. Wenn er nach Moskau zurückkehrte, hatte er sich bewiesen, hatte seinen Status zurückerlangt. Er hatte am Rand einer Niederlage gestanden, aber er war wieder da.
Auf dem Weg zum Bauernhof fragte sich Anatoli, wie sie ihn gefunden hatten. Vermutlich hatte er Zina einmal von seiner Freundschaft zu Michail erzählt, und die hatte ihn verraten. Aber er war nicht wütend auf sie. Dazu war er zu müde. Sie wollte auch nur am Leben bleiben, das konnte man ihr nicht verübeln. Außerdem spielte das jetzt auch keine Rolle mehr. Jetzt war nur noch wichtig, seine Häscher davon zu überzeugen, dass Michail sich keinerlei Kollaboration schuldig gemacht hatte.
»Als ich hier gestern Abend angekommen bin, hat die Familie mir gesagt, ich solle verschwinden. Sie wollten nichts mit mir zu tun haben. Haben sogar damit gedroht, die Miliz zu holen. Nur deshalb war ich gezwungen, in die Scheune einzubrechen. Diese Familie hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Es sind brave Leute, fleißige Leute.«