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Leo versuchte sich vorzustellen, was am Abend zuvor wirklich passiert war. Der Verräter hatte seinen Freund um Hilfe gebeten, aber die hatte man ihm nicht gewährt. Nicht gerade ein ausgefeilter Fluchtplan. Auf keinen Fall einer für einen professionellen Spion. »Ihre Freunde interessieren mich nicht.«

Sie kamen in die Nähe des Hofes. Unmittelbar vor ihnen, vor dem Scheunentor, knieten in einer Reihe Michail Zinowjew, seine Frau und die beiden kleinen Töchter. Die Hände hatte man ihnen auf den Rücken gefesselt. Vor Eiseskälte zitterten sie im Schnee. Es war offensichtlich, dass sie schon eine ganze Weile so da hockten. Michails Gesicht war lädiert, aus seiner zertrümmerten Nase tropfte Blut. Sein Kiefer stand seltsam schief, vielleicht war er gebrochen. Unschlüssig umringten die Agenten die Knienden. Wassili stand unmittelbar hinter der Familie. Leo blieb stehen und wollte gerade etwas sagen, als Wassili die überkreuzten Arme öffnete und seine Pistole zum Vorschein kam. Er richtete die Mündung auf Zinowjews Hinterkopf und feuerte. Ein Knall. Der Mann fiel vornüber in den Schnee. Die Frau und die Kinder rührten sich nicht, starrten nur auf die Leiche vor ihnen.

Nur Brodsky reagierte. Ein Schrei entfuhr ihm, der nichts Menschliches an sich hatte - eine Mischung aus Leid und Zorn. Wassili machte einen Schritt zur Seite und legte seine Waffe auf den Hinterkopf der Frau an. Leo hob die Hand. »Die Pistole runter. Das ist ein Befehl.«

»Das sind Verräter. Wir müssen ein Exempel statuieren.« Was-sili drückte den Abzug, seine Hand schlug zurück und ein zweiter Schuss peitschte. Die Frau fiel neben ihrem Mann in den Schnee. Brodsky versuchte sich loszureißen, er schrie immer noch, aber die beiden Agenten, die ihn bewachten, traten ihm in die Kniekehlen. Wassili machte einen weiteren Schritt seitwärts und zielte nun auf den Kopf der älteren Tochter. Ihre Nase war von der Kälte ganz rot, der Körper zitterte unmerklich. Sie starrte auf die Leiche ihrer Mutter. Sie würde hier im Schnee neben ihren Eltern sterben. Leo zog seine Pistole und richtete sie auf seinen Stellvertreter.

»Runter mit der Waffe!« Plötzlich war alle Müdigkeit wie weggeblasen, und nicht wegen eines Narkotikums. Seine Hand war ruhig. Er schloss ein Auge und zielte sorgfältig. Aus dieser Entfernung konnte er ihn nicht verfehlen. Wenn er jetzt schoss, würde das Mädchen am Leben bleiben. Beide Mädchen würden am Leben bleiben. Sie würden nicht ermordet werden. Er wusste nicht, wieso, aber plötzlich war das Wort in seinem Kopf: Ermordet. Er spannte den Hahn.

Wassili war mit Kiew auf dem Holzweg gewesen. Er hatte sich von Brodskys Brief an der Nase herumführen lassen. Er hatte den anderen Männern eingeredet, dass es Zeitverschwendung war, nach Kimow zu fahren. Er hatte angedeutet, dass, wenn die Sache heute schiefging, er der neue Chef sein würde. All diese peinlichen Fehler würden in Leos Bericht stehen. Wassili merkte, wie die anderen ihn ansahen. Sein Status hatte einen demütigenden Rückschlag erlitten. Ein Teil von ihm wollte, dass Leo den Mumm hatte, ihn zu töten. Das würde üble Folgen haben. Aber er war kein Narr. Tief drinnen wusste er, dass er ein Feigling war, und ebenso gut wusste er, dass Leo keiner war. Wassili ließ die Waffe sinken. Er tat, als sei er zufrieden, und deutete auf die beiden Kinder. »Die Mädchen haben eine wertvolle Lektion erhalten. Vielleicht werden sie eines Tages bessere Bürger sein als ihre Eltern.«

Leo marschierte auf seinen Stellvertreter zu. Als er an den beiden Leichen vorbeikam, hinterließ er einen Fußstapfen im blutigen Schnee. Er holte rasch aus und schlug Wassili die Kante seiner Waffe an den Schädel. Wassili wich zurück und hielt sich den Kopf. Er hatte eine Platzwunde und blutete. Noch bevor er sich wieder aufrichten konnte, spürte er, wie Leo ihm seine Waffe an die Schläfe drückte. Alle sahen zu, außer den beiden Mädchen, die die Augen gesenkt hatten und auf den Tod warteten.

Sehr langsam wandte Wassili den Kopf und schaute hoch. Sein Mund zitterte vor Erniedrigung. Er hatte Angst vor dem Tod. Derselbe Mann, dem der Tod anderer Menschen so gleichgültig war. Leos Finger berührte den Abzug. Aber er konnte es nicht tun. Nicht kaltblütig. Er würde nicht den Scharfrichter dieses Mannes spielen. Sollte der Staat ihn bestrafen. Er vertraute auf den Staat. Er schob seine Waffe zurück ins Halfter. »Du bleibst hier und wartest auf die Miliz. Du erklärst ihnen, was passiert ist, und hilfst ihnen. Und dann sieh zu, wie du wieder nach Moskau kommst.«

Leo half den beiden Mädchen auf die Beine und brachte sie ins Haus.

Drei Agenten waren nötig, um Brodsky auf die Ladefläche des Lasters zu schaffen. Sein Körper war so schlaff, als sei alles Leben aus ihm gewichen. Er murmelte unverständliche Worte, verrückt vor Kummer und ohne auf die Beamten zu achten, die ihm bedeuteten, er solle sein Maul halten. Sie wollten sich nicht den ganzen Weg nach Moskau sein Gejammer anhören.

Die Mädchen im Haus sagten keinen Ton. Sie konnten immer noch nicht fassen, dass die Toten da draußen im Schnee ihre Eltern waren. Jeden Moment rechneten sie damit, dass ihr Vater hereinkam und ihnen Frühstück machte oder ihre Mutter vom Feld zurückkehrte. Es war alles so unwirklich. Ihre Eltern waren ihre ganze Welt. Wie konnte es eine Welt geben ohne sie?

Leo fragte sie, ob sie noch Verwandte hätten. Beide schwiegen. Er wies die Ältere an zu packen, sie würden nach Moskau fahren. Aber keine der beiden rührte sich. Also ging er ins Schlafzimmer und packte für sie, suchte nach ihren Sachen, ihren Kleidern. Seine Hände fingen an zu zittern. Er hielt inne, setzte sich aufs Bett und schaute auf seine Stiefel hinab. Dann legte er die Hacken zusammen und sah stumpfsinnig zu, wie schmale, blutgetränkte Schneekrusten zu Boden fielen.

Wassili rauchte seine letzte Zigarette und beobachtete vom Straßenrand aus, wie der Laster abfuhr. Er erhaschte einen Blick auf die beiden Mädchen, die in der Fahrerkabine neben Leo saßen, wo eigentlich er hätte sitzen sollen. Der Laster wendete und verschwand die Straße hinab. Wassili blickte sich um. Hinter den Fenstern der näher gelegenen Bauernhäuser kamen Gesichter zum Vorschein, diesmal schraken sie nicht zurück. Zum Glück hatte er noch sein Maschinengewehr. Er ging zurück ins Haus und warf dabei einen flüchtigen Blick auf die Toten, die da im roten Schnee lagen. In der Küche machte er sich einen Tee. Er war stark und Wassili süßte ihn mit Zucker. In diesem Haushalt gab es ein kleines Töpfchen Zucker, das vermutlich einen Monat lang hätte reichen sollen. Wassili schüttete fast den gesamten Inhalt in sein Glas und gönnte sich ein dekadentes Vergnügen. Er schlürfte seinen Tee und wurde plötzlich müde. Also legte er die Stiefel und die Jacke ab, ging ins Schlafzimmer, zog die Decken zurück und legte sich hinein. Er hätte sich gewünscht, dass man sich seine Träume selbst aussuchen könnte. Wassili wollte einen Rachetraum.

Moskau

16. Februar

Obwohl es nun schon seit fünf Jahren seine Arbeitsstätte war, hatte Leo sich in der Lubjanka, dem MGB-Hauptquartier für Innere Angelegenheiten, nie wohl gefühlt. Eine zwanglose Unterhaltung war hier unmöglich. Alle waren stets auf der Hut. Wenn man bedachte, in welchem Gewerbe sie sich tummelten, war das nicht weiter verwunderlich, aber Leo kam es so vor, als strahle schon das Gebäude selbst etwas aus, das die Leute verunsicherte, so als sei die Angst fester Bestandteil der Architektur. Theoretisch wusste er, dass das Blödsinn war, weil der Bau ja aus vorrevolutionärer Zeit stammte und ein ganz normales Versicherungsbüro beherbergt hatte, bevor er vom sowjetischen Geheimdienst requiriert worden war. Trotzdem fragte er sich, ob es wirklich bloßer Zufall war, dass sie ausgerechnet hier gelandet waren, in einem Gebäude, das einen schon durch seine schieren Proportionen - weder hoch noch niedrig, weder breit noch schmal, irgendwie ein seltsames Mittelding - einschüchterte. Die Fassade erweckte den Eindruck totaler Überwachung: Dicht an dicht standen die Fenster, eine Reihe über der anderen, und über allem eine einsame weiße Uhr, die über die Stadt wachte wie ein schimmerndes Auge. Um das Gebäude herum schien eine unsichtbare Grenze zu verlaufen, denn Passanten hielten stets gehörigen Abstand, als fürchteten sie, hineingezerrt zu werden. Wer diese Grenze übertrat, war entweder hier angestellt oder verdammt. Innerhalb dieser Mauern war es unmöglich, für unschuldig befunden zu werden. Es war ein Verurteilungs-Fließband. Vielleicht hatte man beim Bau der Lubjanka die Angst nicht im Sinn gehabt, aber die Angst hatte sich ihrer bemächtigt. Die Angst hatte dieses frühere Versicherungsgebäude zu ihrem Zuhause, ihrer Botschaft gemacht.