Leo zeigte seinen Dienstausweis vor. Dieser erlaubte ihm nicht nur, das Gebäude zu betreten, sondern vor allem auch, es wieder zu verlassen. Männer und Frauen, die ohne einen solchen Ausweis durch diese Pforte kamen, wurden oft nie mehr wiedergesehen. Das System brachte sie in die Gulags oder vielleicht auch in ein anderes Haus, das direkt hinter diesem an der Warsonof-jewski-Gasse lag. Auch dies war ein Gebäude der Staatssicherheit, mit abgeschrägten Fußböden, holzverkleideten Wänden, die die Kugeln abfingen, und Schläuchen, mit denen man die Bäche von Blut wegspritzen konnte. Was die Hinrichtungsrate betraf, so kannte Leo keine genauen Zahlen, aber sie war hoch, mehrere 1oo am Tag. Bei solchen Mengen spielten praktische Erwägungen (wie einfach und schnell man zum Beispiel saubermachen konnte) durchaus eine Rolle.
Als er den Korridor entlangging, fragte Leo sich, wie es wäre, wenn man in den Keller hinabgeführt würde - ohne jegliche Berufung und ohne jemanden, an den man sich dafür wenden konnte. Das Strafrechtssystem wurde bei Bedarf vollkommen umgangen. Leo wusste von Gefangenen, die man wochenlang einfach dort liegen gelassen hatte, und von Ärzten, deren einzige Aufgabe die Schmerzforschung war. Er redete sich ein, dass diese Dinge ja kein Selbstzweck waren. Es gab sie aus guten Gründen, im Interesse einer höheren Sache. Es gab sie, um Angst zu verbreiten. Angst war wichtig. Ohne das Instrument der Angst wäre Lenin untergegangen. Und auch Stalin. Warum sonst wurden die Gerüchte über dieses Gebäude von MGB-Kadern bewusst gestreut, strategisch in der Metro und der Tram herumgeflüstert, als ob man die Bevölkerung mit einem Virus infizieren wollte? Die Angst wurde kultiviert. Angst war ein Teil seiner Arbeit. Und damit man ein solches Niveau an Angst aufrechterhalten konnte, brauchte es einen stetigen Nachschub an Menschen, die man ihr zum Fraß vorwarf.
Die Lubjanka war nicht das einzige gefürchtete Gebäude. Da gab es das Butyrka-Gefängnis mit seinen hohen Türmen und verwahrlosten Flügeln voller enger Zellen, in denen die Insassen mit Streichhölzern spielten, während sie darauf warteten, in die Arbeitslager deportiert zu werden. Oder das Lefortowo-Gefängnis, wohin Kriminelle gebracht wurden, gegen die man gerade ermittelte. Ihre Schreie waren bis auf die benachbarten Straßen zu hören. Trotzdem wusste Leo, dass die Lubjanka im Kopf der Leute einen besonderen Platz einnahm. Sie stand für den Ort, an dem jene abgeurteilt wurden, die sich der antisowjetischen Agitation, konterrevolutionärer Umtriebe und der Spionage schuldig gemacht hatten. Warum war es gerade diese Kategorie von Gefangenen, die den Leuten eine derartige Furcht einflößte? Ganz einfach: Jeder konnte sich beruhigt sagen, dass er niemals stehlen und nie jemanden vergewaltigen oder umbringen würde. Aber niemand konnte sich je sicher sein, ob er nicht der antisowjetischen Agitation, konterrevolutionärer Umtriebe oder der Spionage schuldig war, weil niemand, Leo eingeschlossen, sich genau darüber im Klaren war, worin diese Verbrechen eigentlich bestanden. In den 140 Artikeln des Gesetzbuches gab es nur einen einzigen Passus dazu, der Leo anleitete - den Abschnitt eines Paragraphen, der einen politischen Gefangenen als jemanden definierte, der aktiv verwickelt war in: umstürzlerische, subversive oder auf die Schwächung des sowjetischen Staates gerichtete Aktivitäten.
Das war alles. Ein dehnbarer Begriff, der auf jeden vom höchsten Parteifunktionär über die Balletttänzerin und den Musiker bis hinunter zum Schuster in Rente angewandt werden konnte. Nicht einmal jene, die im Innern der Lubjanka arbeiteten und die Maschinerie der Angst am Laufen hielten, konnten sich sicher sein, dass das Gebäude, in dem sie beschäftigt waren, nicht eines Tages auch sie verschlingen würde.
Obwohl Leo drinnen war, trug er immer noch all seine Sachen, einschließlich der Lederhandschuhe und eines langen Wollman-tels. Ihn fröstelte. Wenn er still stehen blieb, schien der Boden zu schwanken. Manchmal wurde ihm urplötzlich für Sekunden schwindelig. Er fühlte sich, als würde er jeden Moment umfallen. Seit zwei Tagen hatte er nichts mehr zu sich genommen, schon beim bloßen Gedanken an Essen wurde ihm übel. Trotzdem wies er stur jeden Gedanken daran zurück, dass er krank sein könnte. Vielleicht eine kleine Erkältung, vielleicht übermüdet, aber das würde vorbeigehen. Der übliche Kollaps, wenn die Amphetamine nachließen. Alles, was er brauchte, war ein bisschen Schlaf. Unmöglich konnte er sich einen Tag frei nehmen. Nicht heute, nicht, wenn Anatoli Brodskys Verhör anstand.
Verhöre gehörten streng genommen gar nicht zu seinen Aufgaben. Dafür hatte der MGB Spezialisten, die nichts anderes taten, als von Zelle zu Zelle zu gehen, die Gefangenen zu verhören und ihnen - mit einer Mischung aus professioneller Gleichgültigkeit und persönlichem Stolz - Geständnisse abzupressen. Wie die meisten Angestellten wurden sie motiviert von der Aussicht auf einen erfolgsabhängigen Bonus, der gewährt wurde, wenn der Verdächtige umgehend und ohne Zusätze sein Geständnis unterschrieb. Ein wenig wusste Leo über ihre Methoden, aber persönlich kannte er keinen von ihnen. Die Verhörspezialisten waren eine verschworene Gemeinschaft, sie arbeiteten als Gruppe zusammen, teilten sich oft dieselben Verdächtigen und bündelten ihre jeweiligen Talente, um die Standhafteren aus allen Richtungen zu attackieren. Brutalität, Wortgewandtheit, Charme - all diese Vorzüge konnte man gebrauchen. Auch außerhalb der Arbeit blieben diese Männer und Frauen unter sich, aßen zusammen, tranken zusammen, gingen zusammen spazieren und tauschten untereinander Geschichten und Verhörmethoden aus. Obwohl sie so wie du und ich aussahen, konnte Leo sie trotzdem ziemlich mühelos erkennen. Viele ihrer extremeren Operationen spielten sich ausschließlich im Keller ab, wo sie Dinge wie die Zufuhr von Wärme und Licht kontrollieren konnten.
Leos Aufgabe als Ermittler bedeutete hingegen, dass er die meiste Zeit entweder oben im Gebäude oder draußen verbrachte. Der Keller war eine Welt, in die er nur selten hinabstieg, eine Welt, vor der er die Augen verschloss, eine Welt, die er am liebsten unter seinen Füßen ließ.
Nach kurzem Warten wurde er hereingerufen. Auf wackeligen Beinen betrat er Generalmajor Kuzmins Büro. Nichts in diesem Raum war dem Zufall überlassen. Alles war peinlich genau geplant und befand sich an dem ihm zugedachten Platz. Die Wände schmückten gerahmte Schwarzweißfotographien, darunter eine, auf der Stalin Kuzmin die Hand schüttelte, aufgenommen am 70. Geburtstag des Führers. Darum herum gruppierte sich eine Sammlung gerahmter Propagandaplakate aus verschiedenen Jahrzehnten. Vermutlich sollte die weite Zeitspanne dokumentieren, dass Kuzmin schon immer dieses Büro innegehabt hatte, selbst während der Säuberungen in den dreißiger Jahren. Das stimmte aber gar nicht, denn damals war er im militärischen Abschirmdienst gewesen.
Eines der Plakate zeigte ein fettes weißes Kaninchen in einem Käfig. ESST MEHR KANINCHENFLEISCH! Auf einem anderen schlugen drei mächtige rote Gestalten ihre roten Hämmer auf die Köpfe von drei schmollend dreinschauenden, unrasierten Männern. BEKÄMPFT FAULE ARBEITER! Es gab drei lächelnde Frauen, die in eine Fabrik gingen. VERTRAUT UNS EURE ERSPARNISSE AN! Das UNS auf dem letzten Plakat bezog sich allerdings nicht auf die drei lächelnden Frauen, sondern auf das Nationale Sparkonto. Ein weiteres Plakat zeigte ein Knollenmännchen in Anzug und Zylinder, das zwei zum Bersten mit Geldscheinen gefüllte Taschen trug. KAPITALISTISCHE CLOWNS! Es gab grobschlächtige Bilder von Docks, Schiffsbaumotiven, Eisenbahnen, lächelnden Arbeitern, wütenden Arbeitern und eine ganze Flotte von Lokomotiven, die alle Lenin gewidmet waren. BAUT AUF! Die Plakate wurden regelmäßig ausgewechselt, Kuzmin war eifrig darum bemüht, seine gesamte Kollektion vorzuführen. Mit gleicher Sorgfalt bedachte er seine »Bibliothek«. In seinen Regalen standen die richtigen Bücher, und sein Exemplar von >Geschichte der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion - Kurzer Lehrgang<, von Stalin höchstselbst herausgegeben, verschwand nur selten von seinem Schreibtisch. Selbst der Papierkorb enthielt nur streng ausgewählte Gegenstände. Vom niedrigsten Sekretär bis hin zu den höchstrangigen Offizieren wusste jeder, dass man Dinge, die man wirklich wegwerfen wollte, herausschmuggelte und diskret auf dem Nachhauseweg verschwinden ließ.