Die letzten drei Tage hatte er nicht einmal die Wohnung verlassen. Vom Rest der Welt abgeschottet hatte er im Bett gelegen, heißes Zuckerwasser mit Zitrone getrunken, Borschtsch gegessen und mit seiner Frau Karten gespielt, die auf seine Krankheit keine Rücksicht nahm und fast jedes Mal gewann. Die meiste Zeit aber hatte er geschlafen, und glücklicherweise hatten ihn nach dem ersten Tag auch keine Albträume mehr geplagt. Stattdessen hatte eine große Dumpfheit Besitz von ihm ergriffen. Leo hatte damit gerechnet, dass das bald vorbeigehen würde, wahrscheinlich war diese Melancholie nur ein Nebeneffekt des Amphetamin-Entzugs. Aber es war schlimmer geworden. Er hatte seinen Vorrat des Medikaments, mehrere Röhrchen schmutzigweißer Kristalle, genommen und in den Ausguss gespült. Keine Festnahmen mehr unter Drogeneinfluss! Waren es die Aufputschmittel? Oder die Verhaftungen?
Je mehr er sich erholte, desto rationaler konnte er die Ereignisse der vergangenen Tage bewerten. Sie hatten einen Fehler gemacht. Anatoli Tarasowitsch Brodsky war ein Fehler gewesen. Er war ein unschuldiger Mann, der in das Räderwerk eines mächtigen, wichtigen, aber deshalb nicht unfehlbaren Staates geraten und darin aufgerieben worden war. Er hatte einfach Pech gehabt. Ein einzelner Mensch brachte die Bedeutsamkeit ihres Tuns nicht ins Wanken. Natürlich nicht. Die Prinzipien ihrer Arbeit blieben richtig. Der Schutz der Nation war wichtiger als ein einzelner Mensch, wichtiger noch als tausend Menschen. Wie viel mochten all die Fabriken und Maschinen der Sowjetunion zusammengenommen wiegen? Gemessen an dieser Größenordnung war ein Individuum nichts. Es war wichtig, dass Leo die Dinge im Gesamtzusammenhang betrachtete. Wenn man weitermachen wollte, musste man immer alles im Gesamtzusammenhang betrachten. Eine schlüssige Argumentation, aber Leo glaubte trotzdem nicht daran.
Vor ihm, in der Mitte des Lubjanka-Platzes und umgeben von einer grasbewachsenen Insel, um die der Verkehr kreiste, stand die Statue von Felix Dscherschinski. Die Geschichte dieses Mannes kannte Leo in- und auswendig. Dscherschinski war der erste Leiter der Tscheka gewesen, der Staatssicherheitspolizei, die Lenin nach dem Sturz des zaristischen Regimes gegründet hatte. Dscherschinski war also einer der Urväter des NKWD und ein Vorbild. Die Ausbildungshandbücher waren gespickt mit Zitaten, die ihm zugeschrieben wurden. In seiner vielleicht berühmtesten und oft bemühten Rede hatte er ausgeführt:
EIN AGENT MUSS SEIN HERZ ZUR GRAUSAMKEIT ERZIEHEN.
Grausamkeit war eines der Heiligtümer ihres beruflichen Ehrenkodex. Grausamkeit war eine Tugend. Grausamkeit war etwas, wonach zu streben sich lohnte. Grausamkeit war der Schlüssel zum perfekten Staat. Wenn man die Tschekisten mit den Anhängern irgendeiner religiösen Doktrin vergleichen wollte, dann war die Grausamkeit ihr erstes Gebot.
Bei Leos Ausbildung war es in erster Linie um Athletik und körperliche Ertüchtigung gegangen. Eine Tatsache, die seiner Karriere bislang eher dienlich als hinderlich gewesen war, verlieh sie ihm doch den Anschein eines Mannes, dem man trauen konnte, und zwar im selben Maße, wie man zum Beispiel einem Gelehrten misstraute. Aber es hatte auch bedeutet, dass er sich mindestens einen Abend pro Woche hinsetzen und sich Wort für Wort sämtliche Zitate aufschreiben musste, die ein Agent auswendig kennen sollte. Leo war weder ein Bücherwurm noch mit einem besonders ausgeprägten Gedächtnis gesegnet, und der Drogenkonsum hatte die Sache nicht besser gemacht. Dabei war die Fähigkeit, sich an politische Reden zu erinnern, unverzichtbar. Mit jeder Erinnerungslücke bewies man mangelnden Diensteifer. Und als Leo sich jetzt nach drei Tagen Abwesenheit dem Eingang der Lubjanka näherte und einen letzten Blick zurück auf das Standbild Dscherschinskis warf, wurde ihm klar, dass seine Erinnerung ziemlich lückenhaft war. Der eine oder andere Satzfetzen fiel ihm zwar wieder ein, aber er kannte nicht mehr alle und brachte sie auch nicht die richtige Reihenfolge. Und von diesen tausend und abertausend Worten, von der ganzen Tschekistenbibel mit ihren Axiomen und Prinzipien war das Einzige, an das er sich noch ganz genau erinnern konnte, die Bedeutung der Grausamkeit.
Leo wurde in Kuzmins Büro geführt. Diesmal saß der Generalmajor und bot Leo einen Platz ihm gegenüber an. »Geht es dir besser?
»Ja, danke. Meine Frau hat mir gesagt, dass Sie vorbeigeschaut haben.«
»Wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Es war das erste Mal, dass du krank warst. Ich habe in deiner Akte nachgeschaut.«
»Tut mir leid.«
»Es war ja nicht dein Fehler. Du warst sehr tapfer, als du da im Fluss herumgeschwommen bist. Und wir sind froh, dass du ihn gerettet hast. Er hat uns wichtige Informationen gegeben.«
Kuzmin tippte auf eine dünne schwarze Aktenmappe, die in der Mitte des Tisches lag. »In deiner Abwesenheit hat Brodsky gestanden. Wir haben zwei Tage gebraucht und zwei Schockbehandlungen mit Kampfer. Er war bemerkenswert starrköpfig. Aber am Ende ist er doch zusammengebrochen. Er hat uns die Namen von sieben Sympathisanten des Westens genannt.«
»Wo ist er jetzt?«
»Brodsky? Der wurde gestern Abend exekutiert.«
Was hatte Leo denn erwartet? Er konzentrierte sich darauf, ein ungerührtes Gesicht zu machen, so als habe er gerade erfahren, dass es draußen kalt sei.
Kuzmin nahm die schwarze Aktenmappe und reichte sie ihm. »Da drin findest du eine vollständige Abschrift seines Geständnisses.«
Leo schlug die Mappe auf. Sein Blick fiel auf die erste Zeile: Ich, Anatoli Tarasowitsch Brodsky, bin ein Spion.
Leo blätterte die maschinengeschriebenen Seiten durch. Er erkannte das typische Muster wieder: Erst kam die Entschuldigung, das Bedauern und dann die genaue Beschreibung des Verbrechens. Diese Schablone hatte er schon tausendmal gesehen, nur die Details wechselten, Namen und Orte. »Möchten Sie, dass ich es sofort lese?«
Kuzmin schüttelte den Kopf und reichte ihm einen versiegelten Umschlag. »Er hat sechs sowjetische Staatsbürger und einen Ungarn genannt. Kollaborateure, die mit ausländischen Regierungen zusammenarbeiten. Sechs der Namen habe ich anderen Agenten zur Nachforschung gegeben. Die siebte Person musst du überprüfen. Da du einer meiner besten Offiziere bist, habe ich dir den schwierigsten Fall anvertraut. In dem Umschlag findest du unsere ersten Ermittlungen, ein paar Fotos und alle Informationen, die wir gegenwärtig über die Person haben. Nicht sehr viel, wie du sehen wirst. Dein Auftrag ist, weitere Informationen zu beschaffen. Und wenn es stimmt, was Anatoli ausgesagt hat, wenn diese Person eine Verräterin ist, dann wirst du sie verhaften und herbringen. Das übliche Prozedere.«
Leo riss den Umschlag auf und zog mehrere große Schwarzweißfotografien heraus. Es waren Überwachungsfotos, die aus einiger Entfernung von der anderen Straßenseite aus geschossen worden waren.
Es waren Fotos von seiner Frau.
Am selben Tag
Raisa war erleichtert, dass der Tag sich dem Ende neigte. Die letzten acht Stunden hatte sie damit zugebracht, in jedem Jahrgang immer wieder ein und denselben Unterricht abzuhalten. Norma-lerweise unterrichtete sie das Pflichtfach Politik, aber heute Morgen hatte sie neue Anweisungen erhalten. Sie waren der Schule vom Bildungsministerium zugeschickt worden und wiesen sie an, den beiliegenden Unterrichtsplan zu befolgen. Offenbar hatte jede Schule in Moskau diese Anweisungen erhalten und war aufgefordert worden, sie unverzüglich umzusetzen. Der normale Unterricht könne am Folgetag fortgesetzt werden. Gemäß diesen Instruktionen verbrachte sie nun den ganzen Tag damit, jeder Klasse zu vermitteln, wie sehr Stalin die Kinder seines Landes liebte. Ja, die Liebe selbst war eine politische Lektion. Es gab nichts Wichtigeres als die Liebe des Führers und dementsprechend auch die Liebe zu ihm. Ein Teil dieser Liebe war, dass Stalin all seine Kinder, egal wie alt, an bestimmte Vorsichtsmaßnahmen erinnern wollte, die sie sich zur alltäglichen Gewohnheit machen sollten. Bevor sie die Straße überquerten, sollten sie erst nach links und dann nach rechts schauen. Sie sollten vorsichtig sein, wenn sie mit der Metro fuhren. Ferner (und dies war besonders hervorzuheben) sollten sie nicht auf Eisenbahnschienen herumspielen. Im letzten Jahr hatte es mehrere tragische Unfälle auf den Gleisen gegeben. Die Sicherheit der Kinder ging dem Staat über alles. Kinder waren die Zukunft.