Es hatte einiges unfreiwillig komisches Anschauungsmaterial gegeben, und am Ende musste jede Klasse eine kurze Wissenskontrolle absolvieren, um sicherzustellen, dass auch alles richtig verstanden worden war:
Wer liebt euch, am meisten?
Richtige Antwort: Stalin.
Wen liebt ihr am meisten?
Richtige Antwort s. o.
(falsche Antworten sind zu erfassen)
Was sollt ihr niemals tun?
Richtige Antwort: Auf Eisenbahnschienen spielen.
Raisa konnte hinter diesem jüngsten Edikt nur vermuten, dass der Staat sich Sorgen um die Bevölkerungsentwicklung machte.
Ihre Stunden waren sowieso todlangweilig, noch langweiliger als die in anderen Unterrichtsfächern. Dass die Schüler bei jeder Lösung einer mathematischen Gleichung klatschten, wurde nicht erwartet. Sehr wohl erwartet wurde indessen, dass sie ihre Bemerkungen über den Oberbefehlshaber Stalin, den sowjetischen Staat oder die kommende Weltrevolution mit Applaus bedachten. Die Schüler wetteiferten miteinander, keiner wollte weniger begeistert erscheinen als sein Nachbar. Alle fünf Minuten kam der Unterricht zum Erliegen, weil Kinder aufsprangen, mit den Füßen auf den Boden stampften oder mit den Fäusten auf die Tische klopften. Und pflichtschuldigst blieb Raisa nichts anderes übrig als mitzumachen, und das mehrmals pro Stunde. Damit ihr nicht ständig die Hände brannten, hatte sie sich angewöhnt, so zu klatschen, dass ihre Handflächen sich kaum berührten und nur in vorgetäuschtem Enthusiasmus übereinanderglitten. Anfangs hatte sie die Kinder verdächtigt, dass sie diesen Unfug schätzten und möglichst weit trieben, um den Unterricht zu stören, aber mittlerweile wusste sie, dass das nicht stimmte. Sie hatten Angst. Disziplin war deshalb auch nie ein Problem. Raisa musste kaum einmal laut werden und sprach nie irgendwelche Drohungen aus. Selbst mit sechs Jahren hatten die Kinder schon begriffen, dass jeder, der sich gegen die Autorität auflehnte und unpassende Bemerkungen machte, sich die Konsequenzen selbst zuzuschreiben hatte. Auch mit seiner Jugend konnte man sich nicht herausreden. Das Alter, in dem ein Kind für seine eigenen Verbrechen oder die seines Vaters erschossen werden konnte, betrug zwölf Jahre. Das durfte Raisa ihren Schützlingen allerdings nicht beibringen.
Trotz der vollen Klassen, die ohne die demographischen Verwüstungen des Krieges sogar noch voller gewesen wären, hatte Raisa ursprünglich vorgehabt, sich sämtliche Namen ihrer Schüler einzuprägen. Sie hatte damit zeigen wollen, dass ihr jeder persönlich am Herzen lag. Aber schnell hatte sie festgestellt, dass ihre Namenskenntnis bei ihren Schülern eher auf Unbehagen gestoßen war, so als sei das etwas Bedrohliches. Wenn ich deinen Namen kenne, kann ich dich auch denunzieren.
Diese Kinder hatten bereits die Vorteile der Anonymität erkannt. Raisa fand sich damit ab, dass es ihnen lieber war, wenn sie ihnen so wenig Aufmerksamkeit wie möglich schenkte. Nicht einmal zwei Monate später hatte sie sich abgewöhnt, sie aufzurufen, und zeigte nur noch mit dem Finger auf sie.
Dabei ging es ihr im Vergleich eigentlich noch recht gut. Sie unterrichtete an der Höheren Schule Nr. 7, einem luftigen, rechteckigen Bau auf kurzen Betonstelzen, der als Juwel staatlicher Bildungspolitik galt und schon oft in Artikeln besprochen und fotografiert worden war. Niemand anderes als Nikita Chruschtschow hatte die Schule eröffnet und in der neuen Turnhalle, deren Boden man so glatt gebohnert hatte, dass seine Leibwächter sich kaum auf den Beinen halten konnten, eine Rede gehalten. Er hatte die These vertreten, dass die Bildung sich nach den Bedürfnissen des Staates ausrichten müsse. Und was der Staat am dringendsten brauchte, waren hochproduktive, gesunde junge Wissenschaftler, Ingenieure und Athleten, die olympische Goldmedaillen gewannen. Die neben dem Hauptgebäude liegende Turnhalle war mit ihren kathedralengleichen Ausmaßen länger und breiter als die Schule selbst, verfügte über eine Hallenlaufbahn, die unterschiedlichsten Turnmatten, Ringe, Kletterseile und Sprungkästen, die auch außerhalb des Unterrichts noch ihren Zweck erfüllten, denn auf dem Stundenplan stand für ausnahmslos jeden Schüler, egal wie jung oder talentiert er war, außerdem eine Stunde Training pro Tag. Was Chruschtschows Rede ebenso wie die Schulanlage selbst im Kern bedeutete, war Raisa von Anfang an klar gewesen.
Das Land brauchte keine Dichter, Philosophen oder Priester, sondern mess- und zählbare Produktivität, Erfolge, die man mit der Stoppuhr überprüfen konnte.
Nur einen unter ihren Kollegen betrachtete Raisa als Freund, den Sprach- und Literaturlehrer Iwan Kusmitsch Tschukow. Sie wusste nicht genau, wie alt er war, weil er es ihr nicht sagen wollte, schätzte ihn aber auf etwa vierzig. Ihre Freundschaft hatte sich durch Zufall ergeben. Irgendwann hatte sich Iwan über die Größe der Schulbibliothek ausgelassen - ein Kellerkabuff neben dem Heizungsboiler -, die nur Pamphlete, alte Ausgaben der >Prawda< und genehmigte Texte enthielt, aber kein einziges Buch eines ausländischen Autors.
Als Raisa das gehört hatte, hatte sie ihm zugeraunt, vorsichtiger zu sein. Dieses Raunen war der Beginn einer unerwarteten Freundschaft gewesen, die aus einem strategischen Blickwinkel für sie sogar eher unklug hätte sein können, weil Iwan dazu neigte zu sagen, was er dachte. In den Augen vieler war er schon gebrandmarkt. Einige der anderen Lehrer waren überzeugt, dass er unter den Dielen verbotene Schriften hortete oder, schlimmer noch, selbst ein Buch schrieb, um diese zweifellos subversiven Texte anschließend in den Westen zu schmuggeln. Immerhin hatte er ihr eine illegale Übersetzung von >Wem die Stunde schlägt< geliehen, die sie den ganzen Sommer über nur in Parks lesen konnte und niemals mit heimzunehmen wagte.
Raisa konnte sich den Umgang mit ihm nur leisten, weil ihre eigene Loyalität niemals ernsthaft in Zweifel gezogen wurde. Schließlich war sie die Frau eines Staatssicherheitsbeamten, eine Tatsache, die allgemein bekannt war, sogar bei einigen Schülern. Logischer wäre es gewesen, wenn Iwan unter diesen Umständen Distanz zu ihr gewahrt hätte, aber wahrscheinlich sagte er sich, dass Raisa ihn schon längst denunziert hätte, wenn sie das hätte tun wollen. Bei all seinen nicht opportunen Äußerungen wäre es ihr doch ein Leichtes gewesen, ihrem Mann auf der Bettkante etwas zu flüstern. Und so kam es, dass der einzige Mann, dem Raisa unter ihren Kollegen traute, ausgerechnet der war, dem alle anderen misstrauten. Und die Einzige, der er traute, war ausgerechnet die Frau, der er am wenigsten hätte trauen sollen. Iwan war zwar verheiratet und hatte drei Kinder, aber sie vermutete, dass er insgeheim in sie verliebt war. Es war nichts, worüber sie weiter nachdachte, und um ihrer beider willen hoffte sie, dass er es genauso hielt.