Leos Füße waren taub vor Kälte, und er war froh, sich bewegen zu können. Im Abstand von etwa 50 Metern lief er hinter seiner Frau her. Im schwachgelben Licht der Straßenlaternen war es nicht schwer, ihr zu folgen, außerdem waren kaum andere Leute auf der Straße. Das änderte sich, als sie auf die Aw-tosawodskaja-Straße einbogen, eine Hauptstraße, die auch der Metro-Station ihren Namen gegeben hatte, zu der die beiden zweifellos unterwegs waren. Vor den Lebensmittelgeschäften hatten sich Menschenschlangen gebildet, die die Bürgersteige verstopften. Leo hatte Schwierigkeiten, seine Frau im Auge zu behalten, und ihre unauffällige Kleidung machte die Sache nicht leichter. Es blieb ihm keine Wahl, als die Distanz zwischen sich und den anderen zu verkürzen, und er beschleunigte seine Schritte. Jetzt war er keine zwanzig Meter mehr hinter ihr und die Gefahr, dass sie ihn entdeckte, war groß. Raisa und Iwan betraten die Awto-sawodskaja-Station und verschwanden aus seinem Blickfeld. Leo hastete weiter und umkurvte dabei die anderen Fußgänger. In der Masse der Pendler konnte Raisa ihm leicht verloren gehen. Im-merhin war es, wie die >Prawda< oft genug stolz betonte, das beste und meistfrequentierte U-Bahnnetz der Welt.
Er erreichte den Eingang und stieg die Steintreppen hinab bis in den tiefergelegenen Zentralbereich, eine opulent ausgestattete Halle, die mit ihren cremefarbenen Marmorsäulen, den Geländern aus poliertem Mahagoni und dem Kuppeldach aus Milchglas wie der Empfangssaal einer Botschaft aussah. Es herrschte ein derartiger Hochbetrieb, dass kein Fleckchen Fußboden zu sehen war. Tausende von Menschen, in lange Jacken und Schals eingemummelt, drängelten sich in den Reihen vor den Fahrkartenschranken. Leo kämpfte sich gegen den Strom ein Stück zurück die Treppe hinauf und ließ von dieser erhöhten Warte aus seinen Blick über die Köpfe der Menge schweifen. Raisa und Iwan hatten die metallene Schranke passiert und warteten auf einen Platz auf der Rolltreppe. Leo warf sich zurück ins Gewühl, schlüpfte durch Lücken und drängelte sich an anderen vorbei. Aber da er immer noch hinter der Menschenmenge feststeckte, musste er notgedrungen zu weniger höflichen Mitteln greifen und Leute mit den Händen beiseite schieben. Keiner wagte heftiger zu protestieren als mit einem verärgerten Blick, man konnte ja nie wissen, wer dieser Mann war.
Als Leo die Schranke erreichte, konnte er gerade noch sehen, wie seine Frau seinem Blick entschwand. Er ging durch die Barriere, stellte sich an und ergatterte den ersten Platz auf der Rolltreppe. Die ganze Schräge der mechanisch angetriebenen Holzstufen hinunter blickte er auf ein Meer von Wintermützen, die unmöglich auseinanderzuhalten waren. Er lehnte sich nach rechts hinaus. Raisa war etwa fünfzehn Stufen unter ihm. Um mit Iwan reden zu können, hatte sie sich umgedreht und den Kopf nach oben gewandt. Leo war in ihrem Blickfeld. Er verbarg sich hinter dem vor ihm stehenden Mann, und weil er keinen weiteren Blick riskieren wollte, wartete er, bis sie fast unten waren, bevor er sich wieder umschaute. Die Passage war in zwei Tunnel unterteilt, einen für die Züge nach Norden und einen für die nach Süden. Beide waren randvoll mit Passagieren, die sich vorwärtsschoben und zu ihrem Bahnsteig zu gelangen versuchten. Sie wetteiferten um einen Platz im nächsten ankommenden Zug. Seine Frau entdeckte Leo nirgendwo.
Auf ihrem Weg nach Hause musste Raisa zunächst mit der Sa-moskworetskaja-Linie drei Stationen nach Norden fahren und dort umsteigen. Leo konnte im Moment nur hoffen, dass sie das auch machte. Er lief den Bahnsteig entlang, blickte sich nach rechts und links um, musterte die Reihen zusammengedrängter Gesichter, die in Erwartung der Bahn alle in dieselbe Richtung starrten. Raisa war nicht dabei. Hatte sie etwa den Zug in die andere Richtung genommen? Aber warum würde sie nach Süden fahren? Plötzlich bewegte sich ein Mann und Leo erhaschte einen Blick auf eine Aktentasche. Da war Iwan, und neben ihm Raisa, sie standen direkt an der Bahnsteigkante. Leo war so nah bei ihnen, dass er beinahe die Wange seiner Frau hätte berühren können. Wenn sie sich jetzt nur um Zentimeter umwandte, würden sie sich Auge in Auge gegenüberstehen. Bestimmt war er schon in ihrem erweiterten Blickfeld, und wenn sie ihn noch nicht entdeckt hatte, dann nur, weil sie ihn hier nicht erwartete. Er konnte nichts dagegen unternehmen, sich nirgendwo verstecken. Er lief weiter den Bahnsteig entlang und rechnete damit, dass sie gleich seinen Namen rufen würde. Als Zufall würde er das nicht hinstellen können. Sie würde die Lüge durchschauen und wissen, dass er sie verfolgt hatte. Leo zählte zwanzig Schritte ab, blieb dann an der Bahnsteigkante stehen und stierte auf das Mosaik am Boden. In drei kleinen Rinnsalen lief ihm der Schweiß übers Gesicht. Er wagte es nicht, ihn abzuwischen oder hinüberzuschielen aus Angst, dass sie in seine Richtung schaute. Er versuchte sich auf das Mosaik zu konzentrieren, das die militärische Stärke der Sowjetunion verherrlichte: ein von schwerer Artillerie flankierter Panzer mit einem dem Zuschauer zugewandten Rohr, auf dem russische Soldaten mit langen wehenden Mänteln und hochgereckten Gewehren saßen. Ganz langsam wandte Leo den Kopf. Raisa sprach mit Iwan. Sie hatte ihn nicht gesehen. Ein Stoß warmer Luft blies auf den Bahnsteig. Der Zug kam.
Während alle die Köpfe wandten, registrierte Leo einen Mann, der in die entgegengesetzte Richtung blickte. Er beobachtete nicht etwa den Zug, sondern ihn. Er sah nur ganz flüchtig zu ihm hin, für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. Der Mann war etwa 30 Jahre alt. Leo hatte ihn noch nie zuvor gesehen, aber ihm war sofort klar, dass er ebenfalls ein Tschekist war, ein Mitglied der Geheimpolizei. Es gab also noch einen zweiten Agenten auf dem Bahnsteig.
Die Menge brandete gegen die Zugtüren. Der Agent war spurlos verschwunden. Die Türen gingen auf. Leo hatte sich nicht gerührt. Dem Zug abgewandt stand er da und starrte immer noch auf den Punkt, wo er eben in diese kalten, professionellen Augen geblickt hatte. Erst als die aussteigenden Passagiere ihn beiseite stießen, erwachte er aus seiner Trance und schob sich in den Waggon hinter Raisa. Wer war dieser Agent? Warum ließen sie einen zweiten Mann seine Frau überwachen? Trauten sie ihm nicht? Natürlich trauten sie ihm nicht. Aber dass sie zu solch extremen Maßnahmen greifen würden, hatte er dann doch nicht erwartet. Er drängelte sich zum Fenster vor, aus dem er den Nachbarwaggon beobachten konnte. Er konnte Raisas Hand sehen, sie hielt sich an einer Griffstange fest. Von dem anderen Agenten keine Spur. Die Türen begannen sich zu schließen.
Im selben Moment stieg der zweite Agent in Leos Waggon ein, drückte sich mit vermeintlicher Gleichgültigkeit an ihm vorbei und bezog ein paar Meter weiter Position. Er war gut ausgebildet, unauffällig, und ohne diesen kurzen Seitenblick hätte Leo ihn vielleicht gar nicht bemerkt. Jetzt wurde ihm klar, dass der Agent gar nicht Raisa beschattete. Er beschattete ihn selbst.
Er hätte sich denken können, dass sie die Operation nicht ganz allein ihm anvertrauen würden. Es bestand ja die Möglichkeit, dass er befangen war. Falls Raisa eine Spionin war, verdächtigten sie ihn vielleicht sogar, mit ihr zusammenzuarbeiten. Seine Vorgesetzten waren verpflichtet sicherzustellen, dass Leo seinen Auftrag ordentlich ausführte. Alles, was er berichtete, würde durch den anderen Agenten gegengeprüft werden. Deshalb war es so wichtig, dass Raisa direkt nach Hause ging. Wenn sie irgendwo anders hinging, ins falsche Restaurant oder den falschen Buchladen, in eine falsche Wohnung, wo die falschen Leute lebten, dann brachte sie sich in Gefahr. Indizien legten sich, wenn sie gebraucht wurden, wie Staub auf einen, und das kleinste Körnchen konnte zum Beweis werden. Ihre einzige Chance, aus der Sache herauszukommen - und es war eine hauchdünne Chance -, war, dass sie nichts sagte, nichts tat und niemanden traf. Sie durfte arbeiten, einkaufen und schlafen. Alles andere konnte falsch ausgelegt werden.