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Wenn Raisa nach Hause fuhr, würde sie die nächsten drei Stationen in dieser Metro bleiben, an der Teatralnaja in die Arbatsko-Pokrowskaja umsteigen und nach Osten weiterfahren. Leo warf einen kurzen Blick zu dem Beamten hinüber, der ihn verfolgte. Jemand war aufgestanden, um auszusteigen, und der Mann hatte sich auf den frei gewordenen Platz gesetzt. Nun schaute er harmlos aus dem Fenster, beobachtete Leo dabei aber mit Sicherheit aus dem Augenwinkel. Der Agent wusste, dass man ihn entdeckt hatte. Vielleicht hatte er das sogar gewollt. Aber das spielte alles keine Rolle, solange Raisa nur ohne Umwege nach Hause fuhr.

Der Zug hielt an der zweiten Station, der Nowokuznetzkaja. Bei der nächsten würden sie umsteigen. Die Türen gingen auf. Leo sah, wie Iwan ausstieg. Innerlich flehte er: Bitte bleib im Zug!

Raisa stieg aus, trat auf den Bahnsteig und bewegte sich auf den Ausgang zu. Sie war nicht auf dem Weg nach Hause. Leo wusste nicht, was sie vorhatte. Wenn er ihr folgte, setzte er sie der Überwachung des zweiten Agenten aus. Wenn er ihr nicht folgte, brachte er sein eigenes Leben in Gefahr. Er musste eine Entscheidung treffen. Leo blickte sich um. Der Agent hatte sich nicht gerührt. Von dort, wo er saß, hatte er auch nicht sehen können, dass Raisa ausgestiegen war. Er orientierte sich an Leo, nicht an ihr, da er davon ausging, dass Leo hinging, wo auch sie hinging.

Leo warf einen Blick zur anderen Seite, durch das Fenster, so als ob Raisa noch im benachbarten Waggon sitze und er sich dessen gerade vergewissere. Er hatte die Entscheidung impulsiv getroffen. Sein Plan hing von dem Glauben des anderen ab, Raisa sei noch in der Bahn. Ein ziemlich wackeliger Plan. Leo hatte nicht an die Massen von Menschen gedacht. Raisa und Iwan waren noch auf dem Bahnsteig, die Langsamkeit, mit der sie sich auf den Ausgang zubewegten, kam für Leo einer Folter gleich. Der Agent starrte aus dem Fenster und würde sie sehen, sobald der Zug anfuhr. Raisa schob sich weiter auf den Ausgang zu und stellte sich geduldig in der Schlange an. Aber sie hatte ja keine Eile, warum auch, sie wusste ja nicht, dass ihr eigenes und auch Leos Leben in Gefahr war, wenn sie sich nicht außer Sichtweite begab. Der Zug setzte sich in Bewegung. Ihr Waggon war beinahe auf einer Höhe mit dem Ausgang. Der andere würde Raisa mit Sicherheit sehen. Er würde wissen, dass Leo seinen Auftrag bewusst nicht ausgeführt hatte.

Der Zug nahm Fahrt auf, kam jetzt am Ausgang vorbei. Raisa stand weithin sichtbar da. Leo fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Vorsichtig wandte er den Kopf, um zu sehen, wie der Agent reagierte. Ein untersetzter Mann mittleren Alters und seine Frau standen im Mittelgang und nahmen dem Agenten jede Sicht auf den Bahnsteig. Der Zug ratterte in den Tunnel. Der Mann hatte Raisa nicht am Ausgang stehen sehen. Er wusste nicht, dass sie nicht mehr im Zug war. Leo fing wieder mit seiner Pantomime an und beobachtete den Nachbarwaggon.

An der Teatralnaja-Station wartete Leo bis zum letzten Moment, bevor er aus dem Zug stieg. Er tat so, als folge er immer noch seiner Frau auf dem Weg nach Hause. Er näherte sich dem Ausgang. Ein schneller Blick über die Schulter verriet ihm, dass der andere ebenfalls ausgestiegen war und versuchte, die Distanz zwischen ihnen zu verringern. Leo drängelte sich weiter vor.

Der Durchgang führte in einen größeren Zentralbereich, von wo aus man sowohl verschiedene Metrolinien als auch den Aufgang nach draußen erreichen konnte. Leo musste seinen Verfolger loswerden, ohne dass es nach Absicht aussah. Der Tunnel zu seiner Rechten führte zur Arbatsko-Pokrowskaja-Linie nach Osten, seinem Heimweg. Leo wandte sich nach rechts. Alles hing jetzt davon ab, wann der nächste Zug kam. Wenn er genügend Vorsprung hatte, konnte er vielleicht zusteigen, bevor der andere ihn einholte und bemerkte, dass Raisa gar nicht auf dem Bahnsteig war.

In dem Tunnel, der zum Bahnsteig führte, sah Leo vor sich Horden von Menschen. Plötzlich hörte er das Geräusch des herannahenden Zuges, hörte, wie er in die Station einfuhr. Leo hatte keine Chance, ihn noch rechtzeitig zu erreichen, nicht bei den ganzen Leuten da vor ihm. Er griff in seine Jackentasche, holte den Dienstausweis der Staatssicherheit hervor und tippte damit auf die Schulter seines Vordermannes. Als hätte man ihn mit heißem Wasser verbrüht, machte der Mann einen Satz zur Seite, und dann die Frau vor ihm, die Menge teilte sich. Jetzt, wo der Weg frei war, konnte Leo losspurten. Der Zug war schon da, die Türen standen offen, gleich würde er abfahren. Leo steckte den Ausweis weg und stieg ein. Dann drehte er sich um. Wie dicht war sein Verfolger an ihm dran? Wenn der es schaffte, aufzuholen und den Zug noch zu erreichen, war das Spiel aus.

Die Menge, die Leo Platz gemacht hatte, war hinter ihm wieder ineinander verschmolzen. Der Agent kam nicht durch und verlegte sich auf rabiatere Methoden, er stieß und rempelte die Leute aus dem Weg. Er holte auf. Warum gingen die Türen nicht zu? Jetzt war der Mann auf dem Bahnsteig, nur noch ein paar Meter entfernt. Die Türen begannen sich zu schließen. Er streckte den Arm aus und rüttelte an einer der Gleittüren, aber der Mechanismus gab nicht nach. Dem Agenten, den Leo jetzt zum ersten Mal aus allernächster Nähe sah, blieb nichts anderes übrig als loszulassen. Leo versuchte, gleichgültig zu tun und sich nichts anmerken zu lassen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie der andere zurückblieb.

Als sie im Dunkel des Tunnels waren, nahm er die schweißgetränkte Mütze ab.

Am selben Tag

Der Aufzug hielt in der fünften und obersten Etage. Leo stieg aus und trat in einen schmalen, mit Teppichboden belegten Flur. Es war sieben Uhr, und es roch nach Essen. Viele Familien nahmen jetzt ihr Uzin ein, die letzte Mahlzeit des Tages. Als Leo an den verschiedenen Wohnungen vorbeikam, hörte er Geräusche, die ihm verrieten, dass hinter den dünnen Sperrholztüren das Abendessen bereitet wurde. Je näher er der Wohnung seiner Eltern kam, desto müder fühlte er sich. Mehrere Stunden lang war er kreuz und quer durch die Stadt gefahren. Nachdem er den Agenten abgeschüttelt hatte, war er zunächst nach Hause in die Wohnung Nr. 124 gefahren, hatte das Licht und das Radio angemacht und die Vorhänge zugezogen - eine notwendige Vorsichtsmaßnahme, selbst wenn man auf der 14. Etage wohnte. Dann hatte er wieder kehrtgemacht, bewusst einen Umweg zur Metrostation genommen und war zurück in die Innenstadt gefahren. Umgezogen hatte er sich nicht, was er jetzt bereute, denn er fühlte sich in den Sachen nicht mehr wohl. Das schweißdurchtränkte Hemd klebte ihm am Rücken. Er war sich sicher, dass er stank, obwohl er selbst es nicht riechen konnte. Er schob den Gedanken beiseite. Seinen Eltern würde es nichts ausmachen. Sie wären viel zu abgelenkt von der Tatsache, dass er sie um ihren Rat bat. Das hatte er schon seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht.

Ihr Verhältnis hatte sich nun schon seit Jahren verkehrt. Er half ihnen mittlerweile viel mehr als sie ihm. Leo gefiel das. Er genoss das Gefühl, ihnen in ihrer jeweiligen Fabrik leichtere Arbeit besorgen zu können. Es hatte nur einer höflichen Anfrage bedurft, und schon war sein Vater in seiner Munitionsfabrik zum Vorarbeiter ernannt worden und musste nicht mehr am Fließband arbeiten. Auch seine Mutter, die den lieben langen Tag nichts anderes machte, als Fallschirme zu nähen, war befördert worden. Leo hatte ihre Versorgung mit Lebensmitteln vereinfacht, sie mussten jetzt nicht mehr stundenlang für Grundnahrungsmittel wie Brot oder Buchweizen anstehen und durften außerdem in den Speztorgi einkaufen, Spezialgeschäften, zu denen normale Leute eigentlich keinen Zutritt hatten. In diesen Läden fand man solche Köstlichkeiten wie frischen Fisch, Safran und sogar Tafeln mit echter dunkler Schokolade, nicht dieses synthetische Zeug, wo sie den Kakao durch eine Mischung aus Roggen, Gerste, Weizen und Erbsen ersetzten. Als seine Eltern Probleme mit einem streitsüchtigen Nachbarn hatten, war es mit dessen Streitsucht schnell vorbei gewesen. Es war keine Gewalt nötig und keine handfesten Drohungen, nur ein kleiner Hinweis, dass er es mit Leuten zu tun hatte, deren Verbindungen besser waren als seine eigenen.