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Leo hatte es auch geschafft, dass man ihnen diese Wohnung zugewiesen hatte. Sie lag in einem angenehmen Wohnviertel im Norden der Stadt, in einem niedrigen Wohnblock, wo sich jede Wohnung eines eigenen Badezimmers und eines kleinen Balkons rühmen konnte, von dem man auf ein Stück Rasen und eine ruhige Straße blickte. Und sie mussten sie mit niemandem teilen, eine echte Seltenheit in dieser Stadt. Nach 50 entbehrungsreichen Jahren führten sie nun endlich ein angenehmes, privilegiertes Leben und genossen das sehr. Sie waren geradezu süchtig danach. Und all das hing an einem einzigen, seidenen Faden, nämlich Leos Karriere.

Leo klopfte an die Tür. Seine Mutter Anna machte auf und schien im ersten Moment überrascht zu sein. Aber sofort war die Sprachlosigkeit verflogen, Anna umarmte ihren Sohn und rief aufgeregt: »Aber warum hast du uns denn nicht gesagt, dass du kommst? Wir hatten gehört, dass du krank warst. Wir sind dich auch besuchen gekommen, aber du hast geschlafen. Raisa hat uns eingelassen. Wir haben nach dir geschaut und ich habe sogar deine Hand gehalten, aber wir wollten dich nicht wecken. Du brauchtest Ruhe. Hast geschlafen wie ein Kind.«

»Raisa hat mir erzählt, dass ihr da wart. Danke für das Obst, die Orangen und die Zitronen.«

»Wir haben kein Obst mitgebracht. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Oder vielleicht doch? Ach, ich werde alt.«

Sein Vater, der das Gespräch mit angehört hatte, kam aus der Küche und schob seine Frau sanft zur Seite. Sie hatte in letzter Zeit ein wenig Gewicht zugelegt. Beide hatten sie ein wenig zugelegt. Es stand ihnen gut.

Stepan umarmte seinen Sohn. »Geht es dir wieder besser?«

»Ja, viel besser.«

»Das ist schön. Wir haben uns Sorgen um dich gemacht.«

»Was macht dein Rücken?«

»Er hat schon eine ganze Weile nicht mehr wehgetan. Einer der Vorteile eines Verwaltungspostens. Alles, was ich mache, ist, andere Leute bei ihrer harten Arbeit zu beaufsichtigen. Ich laufe mit einem Federhalter und einem Klemmbrett herum.«

»Hör auf, dich schuldig zu fühlen. Du hast genug geschuftet.«

»Vielleicht, aber die Leute sehen einen mit anderen Augen an, wenn man nicht mehr einer von ihnen ist. Meine Freunde sind nicht mehr ganz so freundlich zu mir wie früher. Wenn jemand zu spät kommt, bin ich derjenige, der es melden muss. Zum Glück ist noch nie einer zu spät gekommen.«

Leo dachte darüber nach, dann fragte er: »Und was würdest du machen, wenn sie zu spät kämen? Würdest du sie melden?«

»Ich sage ihnen einfach nur jeden Abend, kommt bloß nicht zu spät.«

Mit anderen Worten: Nein, sein Vater würde sie nicht melden. Wahrscheinlich hatte er schon mehrere Male ein Auge zugedrückt. Das war nicht der rechteAugenblick, um ihn zu warnen, aber irgendwann flog solche Großzügigkeit immer auf.

In einem Messingtopf in der Küche köchelte ein Kohlkopf vor sich hin. Seine Eltern machten gerade Golubsti, und Leo bat sie, sich von ihm nicht stören zu lassen. Sie konnten ja in der Küche weiterreden. Leo lehnte sich an die Wand und sah zu, wie seine Eltern Hackfleisch (kein getrocknetes, sondern frisches, was nur Leos Posten zu verdanken war), frisch geriebene Möhren (auch die gingen auf sein Konto) und gekochten Reis miteinander vermengten. Seine Mutter machte sich daran, den gekochten Kohlkopf zu zerpflücken.

Seine Eltern merkten, dass etwas nicht stimmte, drängten ihn aber nicht, sondern warteten ab, bis er von selbst anfing. Er war froh, dass sie so mit ihrem Essen beschäftigt waren.

»Wir haben nie viel über meine Arbeit gesprochen. Das ist auch besser so. Es hat Zeiten gegeben, da habe ich meine Arbeit ziemlich schwierig gefunden. Ich habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin, aber sie waren immer nötig.«

Leo hielt einen Moment inne und überlegte, wie er wohl am besten fortfUhr. Dann fragte er: »Sind schon einmal Freunde von euch verhaftet worden?«

Eine unangenehme Frage, das wusste Leo. Stepan und Anna warfen sich einen raschen Blick zu, bevor sie sich wieder dem Herd zuwandten.

Anna zuckte die Achseln. »Jeder kennt jemanden, der verhaftet worden ist. Aber wir ziehen das nicht in Zweifel. Ich sage mir immer: Ihr Beamten werdet schon eure Beweise haben. Ich kann die Leute nur danach einschätzen, wie ich sie erlebe, und es ist sehr leicht, sich nett und normal und loyal zu geben. Es ist eure Aufgabe, hinter diese Fassade zu blicken. Ihr wisst am besten, was gut für unser Land ist. Wir kleinen Leute können uns da kein Urteil erlauben.«

Leo nickte. »Dieses Land hat viele Feinde. Unsere Revolution ist in der ganzen Welt verhasst. Wir müssen sie verteidigen. Leider auch vor uns selbst.«

Er unterbrach sich. Schließlich war er nicht hergekommen, um staatlich sanktionierte Phrasen zu dreschen. Seine Eltern hörten auf, sich mit ihrer Mahlzeit zu beschäftigen, und wandten sich ihrem Sohn zu. Ihre Hände waren vom Hackfleisch ganz fettig.

»Gestern hat man mich aufgefordert, Raisa zu denunzieren. Meine Vorgesetzten glauben, dass sie eine Verräterin ist. Sie sind überzeugt, dass sie als Spionin für einen ausländischen Geheimdienst arbeitet. Ich habe den Befehl erhalten, gegen sie zu ermitteln.«

Ein Fetttropfen löste sich von Stepans Finger und fiel auf den Fußboden. Stepan sah auf den Fettfleck hinunter, dann fragte er: »Ist sie denn eine Verräterin?«

»Vater, sie ist Lehrerin. Sie geht zur Arbeit, kommt nach Hause, geht wieder zur Arbeit und kommt nach Hause.«

»Dann sag ihnen das. Gibt es denn irgendwelche Indizien? Warum glauben die so was?«

»Es gibt ein Geständnis von einem hingerichteten Spion. Er hat ihren Namen genannt. Hat behauptet, dass er mit ihr zusammengearbeitet hat. Aber ich glaube, das Geständnis ist eine Lüge. Ich weiß, dass dieser Spion in Wirklichkeit nichts anderes war als ein Tierarzt. Seine Verhaftung war ein Irrtum. Ich glaube, dass das Geständnis die Fälschung eines anderen Agenten ist, der mich mit der Sache reinreißen will. Ich weiß, dass meine Frau unschuldig ist. Das Ganze ist ein Racheakt.«

Stepan wischte sich an Annas Schürze die Hände ab. »Sag ihnen die Wahrheit. Sorg dafür, dass sie dir zuhören. Stell diesen Agenten bloß. Du bist doch eine Autoritätsperson.«

»Dieses Geständnis ist als die Wahrheit anerkannt worden, ob es nun stimmt oder nicht. Es ist eine offizielle Akte, und ihr Name steht drin. Wenn ich Raisa verteidige, stelle ich damit die Gültigkeit eines staatlichen Dokuments in Frage. Wenn sie zugeben, dass es einmal nicht stimmt, dann geben sie damit praktisch zu, dass es nie stimmt. Für sie gibt es kein Zurück. Das würde das ganze System erschüttern. Es würde bedeuten, dass sämtliche Geständnisse in Frage gestellt werden könnten.«

»Kannst du nicht sagen, dass dieser Spion ... also dieser Tierarzt ... dass er sich geirrt hat?«

»Genau das habe ich vor. Aber wenn ich das Geständnis anfechte und sie mir nicht glauben, dann verhaften sie nicht nur Raisa, sondern auch mich. Wenn sie schuldig ist und ich behauptet habe, sie sei unschuldig, bin ich auch schuldig. Und das ist noch nicht alles. Ich weiß, wie sich so etwas abspielt. Es ist überhaupt nicht unwahrscheinlich, dass ihr beiden dann auch verhaftet werdet. Nach unserem Rechtssystem werden auch sämtliche Familienmitglieder eines Verurteilten zur Rechenschaft gezogen. Die Verwandtschaft macht uns mitschuldig.«

»Und wenn du ihnen sagst, dass sie eine Spionin ist? Wenn du sie denunzierst?«

»Ich weiß es nicht.«

»Natürlich weißt du das.«