»Dann werden wir überleben. Sie nicht.«
Auf dem Herd köchelte immer noch das Wasser vor sich hin. Schließlich sagte Stepan: »Du bist hergekommen, weil du nicht weißt, was du machen sollst. Du bist gekommen, weil du ein guter Mensch bist und wir dir sagen sollen, dass du dich auch so verhalten sollst. Dass du tun sollst, was richtig ist. Und das wäre, ihnen zu sagen, dass sie sich irren. Dass Raisa unschuldig ist. Und auch die Konsequenzen auf sich zu nehmen, die das mit sich bringt, nicht wahr?«
»Ja.«
Stepan nickte und sah Anna an. Dann fuhr er fort: »Aber diesen Rat kann ich dir nicht geben. Und ich bin mir nicht mal sicher, ob du geglaubt hast, dass ich dir einen solchen Rat erteilen würde. Wie könnte ich? Die einfache Wahrheit ist doch: Ich will, dass meine Frau am Leben bleibt. Ich will, dass mein Sohn am Leben bleibt. Und selber will ich auch am Leben bleiben. Um das zu erreichen, würde ich alles tun. So wie ich die Sache sehe, steht hier ein Leben gegen drei. Es tut mir leid, ich weiß, du hast mehr von mir erwartet. Aber wir sind alt, Leo. Wir würden den Gulag nicht überleben. Sie würden uns voneinander trennen. Wir würden allein sterben.«
»Und wenn du jung wärest, wie wäre dann dein Rat ausgefallen?«
Stepan nickte. »Du hast recht. Mein Rat wäre derselbe gewesen. Aber sei mir nicht böse. Was hast du denn erwartet, als du herkamst? Hast du erwartet, dass wir sagen, in Ordnung, es macht uns nichts aus zu sterben? Und welchen Zweck hätte es, wenn wir sterben? Würde das deine Frau retten? Würdet ihr wieder glücklich vereint sein? Wenn das der Fall wäre, würde ich mit Freuden mein Leben für das eure opfern. Aber das würde nicht passieren. Wir würden lediglich alle miteinander zu Grunde gehen. Alle vier. Nur damit du mit der Gewissheit sterben dürftest, dass du ein guter Mensch warst.«
Leo sah seine Mutter an. Ihr Gesicht war so bleich wie die labberigen Kohlblätter, die sie in der Hand hielt. Sie war gefasst. Sie widersprach dem nicht, was sie gerade gehört hatte, sondern fragte stattdessen nur: »Bis wann musst du dich entscheiden?«
»Ich habe zwei Tage, um Beweise zu finden. Übermorgen muss ich Bericht erstatten.«
Seine Eltern konzentrierten sich wieder auf das Abendessen. Sie umwickelten das Hackfleisch mit Kohlblättern und legten die Päckchen nebeneinander auf ein Backblech. Sie sahen aus wie eine Reihe dicker, abgeschnittener Daumen. Keiner sagte etwas, bis das Blech voll war. Dann fragte Stepan: »Isst du mit uns?«
Leo folgte seiner Mutter ins Wohnzimmer und sah, dass sie bereits für drei gedeckt hatte. »Erwartet ihr jemanden?«
»Wir erwarten Raisa.«
»Meine Frau?«
»Sie kommt zum Essen. Als du an die Tür geklopft hast, dachten wir schon, sie sei es.«
Anna stellte einen vierten Teller hin und erklärte: »Sie kommt fast jede Woche. Sie wollte nicht, dass du weißt, wie einsam es für sie ist, immer allein zu essen, nur mit dem Radio als Gesellschaft. Auch wenn das jetzt merkwürdig klingt, wir haben sie sehr liebgewonnen.«
Es stimmte. Um sieben Uhr war Leo nie schon von der Arbeit zurück. Stalin, der an Schlaflosigkeit litt und nicht mehr als vier Stunden Ruhe pro Nacht brauchte, hatte dem Land eine Kultur der langen Arbeitstage verordnet. Leo hatte gehört, dass im Politbüro niemand gehen durfte, bevor die Lichter in Stalins Privatbüro gelöscht wurden, normalerweise irgendwann nach Mitternacht. Auf die Lubjanka traf diese Regel zwar nicht zu, aber ein ähnliches Maß an Arbeitseifer wurde durchaus erwartet. Nur wenige Beamte arbeiteten weniger als zehn Stunden pro Tag, selbst wenn sie einige dieser Stunden mit Nichtstun verbrachten.
Es klopfte. Stepan öffnete die Tür und ließ Raisa in den Flur treten. Als sie Leo sah, war sie ebenso überrascht, wie es seine Eltern gewesen waren. Stepan erklärte ihr: »Er hatte in der Gegend zu tun. Nun können wir wenigstens einmal zusammen essen wie eine richtige Familie.«
Raisa zog ihre Jacke aus, und Stepan nahm sie ihr ab.
Sie ging zu Leo und musterte ihn von oben bis unten. »Was sind das denn für Klamotten?«
Leo schielte auf seine Hose und sein Hemd - die Sachen von Toten. »Die habe ich geliehen. Auf der Arbeit.«
Raisa lehnte sich dicht an Leo heran und flüsterte ihm zu: »Das Hemd riecht.«
Leo ging ins Bad. »Ich glaube, ich mache mich besser mal frisch.«
An der Badezimmertür blickte er sich kurz um und sah, wie Raisa ihren Eltern beim Auftragen half.
Leo war ohne fließend warmes Wasser aufgewachsen. Seine Eltern hatten sich ihre alte Wohnung mit dem Onkel seines Vaters und dessen Familie geteilt. Es gab nur zwei Schlafzimmer, eins für jede Familie. Die Wohnung selbst verfügte weder über eine Toilette noch über ein Badezimmer. Alle Hausbewohner mussten das stille Örtchen draußen benutzen. Morgens bildeten sich lange Schlangen davor, und im Winter fiel beim Warten der Schnee in dichten Flocken auf sie. Ein eigenes Waschbecken mit warmem Wasser war unvorstellbarer Luxus gewesen. Leo zog das Hemd aus und wusch sich. Als er fertig war, öffnete er die Tür und fragte seinen Vater, ob der ihm eines leihen könne. Obwohl der Kör-per seines Vaters von der Arbeit verbraucht und gebeugt war, vom Fließband so verformt wie das Metall, aus dem er selbst die Panzergranaten geformt hatte, hatte er doch ungefähr den gleichen Körperbau wie sein Sohn, eine athletische Gestalt mit breiten, muskulösen Schultern. Das Hemd passte Leo fast wie angegossen.
Nachdem er sich umgezogen hatte, setzte er sich zum Essen hin. Während die Golubsti im Ofen schmorten, aßen sie Sakuski, einen Vorspeisenteller mit Gurken, Pilzen und Salat sowie für jeden eine Scheibe Rinderzunge, die mit Majoran gekocht und dann in Gelatine kaltgestellt worden war, dazu Meerrettich. Es war eine ausgesprochen üppige Tafel. Leo konnte seine Augen einfach nicht abwenden und rechnete im Geiste aus, was jede einzelne Portion kostete. Mit welchem Tod war der Majoran beglichen worden? Hatte die Scheibe Rinderzunge da das Leben von Anatoli Brodsky gekostet? Während ihm übel wurde, bemerkte er: »Kein Wunder, dass du jede Woche hierherkommst.«
Raisa lächelte. »Ja, die beiden verwöhnen mich. Ich sage ihnen immer, dass mir auch eine Kasha reichen würde, aber ...«
Stepan unterbrach sie: »Du lieferst uns eine gute Ausrede, um uns selbst zu verwöhnen.«
In betont neutralem Ton fragte Leo seine Frau: »Dann bist du also direkt nach der Arbeit hergekommen?«
»Genau.«
Das war eine Lüge. Zuerst war sie irgendwo mit Iwan hingegangen. Aber bevor Leo weiter über die Sache nachdenken konnte, berichtigte Raisa sich: »Stimmt gar nicht. Normalerweise komme ich direkt von der Arbeit her. Aber heute Abend hatte ich noch einen Termin, deshalb war ich auch ein bisschen zu spät.«
»Einen Termin?«
»Beim Arzt.«
Raisa setzte ein Lächeln auf. »Eigentlich wollte ich es dir ja erst sagen, wenn wir allein sind, aber da es nun schon mal zur Sprache gekommen ist ...«
»Was sagen?«
Anna stand auf. »Sollen wir lieber rausgehen?«
Leo bedeutete seiner Muter, sie solle sich wieder hinsetzen. »Also bitte. Wir sind doch eine Familie. Keine Geheimnisse.«
»Ich bin schwanger.«
20. Februar
Leo konnte nicht schlafen. Er starrte die Decke an und hörte dem ruhigen Atmen seiner Frau zu, die sich mit dem Rücken an ihn gekuschelt hatte, nicht unbedingt als bewusstes Zeichen von Intimität, sondern weil sie zufällig so zu liegen gekommen war. Raisa hatte einen unruhigen Schlaf. War das Grund genug, sie zu denunzieren? Ja, warum nicht? Er kannte sich damit aus, wie man so etwas formulieren musste: Meine Frau findet nachts keine Ruhe, sie wird von Träumen verfolgt. Offensichtlich plagt sie ein Geheimnis.