Er konnte die Verantwortung für die Ermittlungen in die Hände eines anderen legen. Er konnte sich vormachen, dass er damit das Urteil aufschob. Er selbst war ja viel zu nah an der Sache dran, war viel zu verstrickt. Bei jedem anderen würden die Ermittlungen nur zu einem einzigen Ergebnis führen: Da der Fall nun einmal eröffnet war, würde sich sonst niemand gegen die Schuldvermutung stemmen.
Er stand auf und stellte sich im Wohnzimmer ans Fenster. Der Blick von hier ging nicht über die Stadt, sondern reichte nur bis zum benachbarten Wohnblock. In der ganzen Front waren nur drei Fenster erleuchtet, drei von vielleicht 1000. Leo fragte sich, welche Probleme die Leute dort quälten, was ihnen den Schlaf raubte. Er fühlte eine seltsame Verbundenheit mit den Menschen hinter diesen drei Vierecken aus blassgelbem Licht. Es war vier Uhr morgens, die Stunde der Verhaftungen. Die beste Zeit, jemanden abzuholen, indem man ihn aus dem Schlaf riss. Da waren die Leute schutzlos und verwirrt. Oftmals ergab sich aus ihren unbedachten Äußerungen, wenn die Beamten in ihre Wohnungen schwärmten, etwas, was man in den Verhören gegen sie verwenden konnte. Es war nicht einfach, besonnen zu bleiben, wenn die eigene Frau an den Haaren über den Boden geschleift wurde. Wie oft hatte Leo schon eine Tür eingetreten? Wie oft hatte er schon miterlebt, wie ein Ehepaar aus dem Bett gezerrt wurde, wie man ihnen Taschenlampen vor die Augen oder unter das Nachthemd hielt? Wie oft hatte er schon Beamte beim Anblick von Genitalien lachen hören? Wie viele Leute hatte er selbst aus dem Bett gezogen? Wie viele Wohnungen verwüstet? Und wie viele Kinder hatte er festgehalten, während man ihre Eltern fortschleppte? Er konnte sich nicht mehr erinnern, hatte die Namen und Gesichter verdrängt. Ein schwaches Gedächtnis war gar nicht mal unpraktisch. Hatte er es etwa kultiviert? Hatte er die Amphetamine vielleicht gar nicht geschluckt, um länger durchzuhalten, sondern um die Erinnerungen an seine Arbeit zu betäuben?
Bei seinen Kollegen, die ihn sich untereinander ja ungestraft erzählen konnten, erfreute sich ein Witz großer Beliebtheit. Ein Mann und eine Frau lagen schlafend im Bett, als sie von einem lauten Klopfen an der Tür geweckt wurden. Da sie mit dem Schlimmsten rechneten, standen sie auf und küssten sich zum Abschied. Ich liebe dich, Frau. - Ich dich auch, Mann. Nachdem sie einander Lebewohl gesagt hatten, öffneten sie die Wohnungstür. Vor ihnen stand ein völlig aufgelöster Nachbar, der ganze Flur war voller Rauch und die Flammen schlugen bis zur Decke hoch. Da lachten der Mann und die Frau vor Erleichterung und dankten Gott, dass bloß das Haus brannte. Leo hatte den Witz schon in den verschiedensten Versionen gehört. Einmal waren es statt des Feuers bewaffnete Banditen, dann wieder ein Arzt mit einer schlimmen Nachricht. In der Vergangenheit hatte er darüber gelacht und geglaubt, dass ihm das nie passieren würde.
Raisa war schwanger. Änderte diese Tatsache nicht alles? Vielleicht änderte es ja die Haltung seiner Vorgesetzten seiner Frau gegenüber. Sie hatten sie nie gemocht. Sie hatte Leo keine Kinder geschenkt. In diesen Zeiten erwartete man, verlangte geradezu, dass Paare Kinder in die Welt setzten. Nach den Millionen Menschen, die im Kampf umgekommen waren, war Kinderkriegen geradezu eine gesellschaftliche Pflicht. Warum war Raisa nicht schwanger geworden? Diese Frage hatte ihre Ehe belastet. Die einzige Schlussfolgerung war, dass etwas mit ihr nicht stimmte. In letzter Zeit war der Druck massiver geworden. Die Frage wurde jetzt öfter gestellt. Raisa ging regelmäßig zu einem Arzt, um der Sache auf den Grund zu gehen. Ihr Sexualleben war eher pragmatisch und durch äußeren Druck motiviert. Die Ironie blieb Leo nicht verborgen, dass seine Vorgesetzten just in dem Moment, wo sie bekommen hatten, was sie wollten, eine schwangere Raisa nämlich, ihre Meinung geändert hatten und sie jetzt tot sehen wollten. Sollte Leo vielleicht erzählen, dass sie schwanger war? Er verwarf die Idee wieder. Eine Verräterin war eine Verräterin, da gab es keine mildernden Umstände.
Leo ging unter die Dusche. Das Wasser war kalt. Er zog sich an und machte sich zum Frühstück Hafergrütze. Er hatte keinen Appetit und sah zu, wie sie in der Schüssel hart wurde. Raisa kam in die Küche, setzte sich und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Leo stand auf. Während er wartete, dass ihre Hafergrütze heiß wurde, sprach keiner von beiden ein Wort. Er stellte ihr die Schale hin. Sie sagte nichts. Er machte ein Glas schwachen Tee und stellte ihn zusammen mit dem Marmeladenglas auf den Tisch. »Ich werde versuchen, ein bisschen früher zu Hause zu sein.«
»Du musst für mich nicht deine Gewohnheiten ändern.«
»Ich versuche es trotzdem.«
»Leo, du musst für mich nicht deine Gewohnheiten ändern.«
Leo schloss die Wohnungstür hinter sich. Es dämmerte. Vom Rand des Korridors konnte er 100 Meter weiter unten Leute auf die Straßenbahn warten sehen. Auf der 30. und obersten Etage verließ er den Lift und ging bis zu einer der Hausverwaltung vorbehaltenen Tür am Ende des Korridors, auf der EINTRITT VERBOTEN stand. Das Schloss war schon vor langer Zeit aufgebrochen worden. Die Tür führte zu einer Treppe, die wiederum aufs Dach führte. Als sie damals eingezogen waren, war er schon einmal hier oben gewesen. Wenn man sich nach Westen wandte, sah man die Stadt. Im Osten konnte man die ländlichen Ausläufer sehen, wo Moskau abrupt aufhörte und schneebedeckten Feldern Platz machte. Als er vor vier Jahren diese Aussicht bewundert hatte, hatte er sich für den glücklichsten Menschen auf der Welt gehalten. Er war ein Held, und das konnte er sogar mit Zeitungsausschnitten belegen. Er hatte einen einflussreichen Posten und eine wunderschöne Frau. Damals war sein Vertrauen in den Staat noch stark und unverbrüchlich gewesen. Vermisste er dieses Gefühl? Das Gefühl eines vollkommenen Vertrauens in sein Leben und seinen Platz in diesem Staat? Ja, er vermisste es.
Er fuhr mit dem Lift zurück in den 14. Stock und betrat wieder die eigene Wohnung. Raisa war zur Arbeit gegangen. Ihre Frühstücksschale stand noch ungespült in der Küche. Er zog sich Jacke und Stiefel aus, wärmte sich die Hände auf und fing an zu suchen.
Leo hatte schon oft Durchsuchungen von Häusern, Wohnungen oder Büros organisiert und überwacht. Die MGB-Mitarbeiter betrachteten solche Einsätze regelrecht als Wettbewerb. Geschich-ten machten die Runde über die außerordentliche Gründlichkeit, die die Beamten an den Tag legten, um ihren Diensteifer zu beweisen. Wertvolle Gegenstände wurden grundsätzlich zertrümmert, Portraits und Bilder aus den Rahmen geschnitten, Bücher zerfetzt und manchmal ganze Wände eingerissen.
Obwohl dies seine eigene Wohnung und seine eigenen Sachen waren, nahm Leo sich vor, die Suche deswegen nicht anders durchzuführen. Er riss die Bettbezüge, Kissen und Decken heraus, drehte die Matratze um und tastete sie sorgfältig Zentimeter für Zentimeter ab wie ein Blinder, der Blindenschrift liest. Man konnte Papiere in Matratzen einnähen, die dann nicht mehr zu sehen waren. Die einzige Methode, wie man sie entdecken konnte, war, die Matratze abzutasten. Als er nichts fand, wandte er sich den Regalen zu. Er kontrollierte jedes Buch und alles, was darin eingelegt worden war. Er fand 1oo Rubel, glotzte das Geld an und fragte sich, was das hieß, bis ihm einfiel, dass das Buch ebenso ihm gehörte wie das Geld, ein geheimer Notgroschen. Ein anderer Agent hätte daraus möglicherweise den Beweis abgeleitet, dass der Besitzer ein Spekulant war. Leo legte das Geld zurück, zog die Schubladen auf und musterte Raisas ordentlich gefaltete Kleidungsstücke. Jedes einzelne nahm er heraus, befühlte und schüttelte es, bevor er es auf einen Haufen am Boden fallen ließ. Nachdem er alle Kleider herausgenommen hatte, kontrollierte er die Seiten und die Rückwand der Schubladen. Als er nichts fand, drehte er sich um und durchsuchte das Zimmer. Er drückte sich gegen die Wände und fuhr mit den Fingern darüber, auf der Suche nach Umrissen eines etwaigen Tresors oder Hohlraums. Dann nahm er den gerahmten Zeitungsausschnitt ab, das Foto von ihm und dem brennenden Panzer. Seltsam, dass ihm dieser Moment, als Leo vom Tod umringt gewesen war, im Rückblick wie eine glücklichere Zeit vorkam. Er nahm den Rahmen auseinander, der Zeitungsausschnitt segelte zu Boden. Nachdem er das Foto in den wieder zusammengesetzten Rahmen geklemmt hatte, klappte er das Bett hoch und lehnte es gegen die Wand. Er kniete sich hin. Die Dielen waren fest verschraubt. Aus der Küche holte er sich einen Schraubenzieher und nahm jede einzelne Diele hoch. Darunter fand sich nichts als Staub und Rohrleitungen.