Sie vermutete, dass die Soldaten noch ein paar Stunden weitertrinken würden. Im Augenblick begrapschten sie sie nur, ein Privileg, für das sie nichts zahlten, wenn man den spendierten Wodka nicht als Bezahlung ansah, aber so rechnete Ilinaja nicht. Abschätzend musterte sie die anderen Kunden, überzeugt, dass sie sich noch ein paar Rubel extra würde verdienen können, bevor die Soldaten bei ihr die Stechuhr drückten. Das Militärkontingent hatte die vorderen Tische besetzt und die übrigen Gäste auf die hinteren Plätze verdrängt. Jeder von ihnen war allein mit sich selbst und seinem Glas und seinem unberührten Teller. Kein Zweifeclass="underline" Sie waren auf der Suche nach Sex. Sonst gab es keinen Grund, hier herumzuhängen.
Ilinaja zupfte ihr Kleid zurecht, kippte ihren Wodka hinunter und bahnte sich, ohne auf die Kniffe und Zoten zu achten, ihren Weg durch die Soldaten, bis sie sich an einem der hinteren Tische wiederfand. Der Mann, der dort saß, war um die vierzig, vielleicht ein wenig jünger. Schwer zu sagen. Er war nicht attraktiv, aber vielleicht würde er deswegen ein bisschen mehr lockermachen. Die gut Aussehenden kamen manchmal auf die Schnapsidee, Geld sei nicht wichtig, als sei das Arrangement zu beiderseitigem Vergnügen. Sie setzte sich an den Tisch, ließ ein Knie an seinem Schenkel hochgleiten und lächelte ihn an. »Ich heiße Tanja.«
In solchen Zeiten half es manchmal, wenn man vor sich selbst so tat, als sei man eine andere.
Der Mann zündete sich eine Zigarette an und legte Ilinaja eine Hand aufs Knie. Anstatt ihr richtig etwas zu trinken zu spendieren, kippte er einfach die Hälfte seines Wodkas in eines der vielen schmutzigen Gläser auf dem Tisch und schob es ihr zu. Sie spielte mit dem Glas und wartete darauf, dass er den Mund aufmachte. Er trank aus, machte aber keine Anstalten zu reden. Sie versuchte, sich ein Augenrollen zu verkneifen und die Konversation in Gang zu bringen. »Wie heißt du?«
Er gab keine Antwort, sondern griff nur in seine Tasche und kramte darin herum. Als er die Hand wieder herauszog, hatte er sie zur Faust geballt. Ihm stand offenbar der Sinn nach einem kleinen Spielchen, und sie sollte mitspielen. Sie tippte ihm auf die Fingerknöchel. Er drehte die Faust um und öffnete sie ganz langsam, einen Finger nach dem anderen ...
Mitten auf seiner Handfläche lag ein kleiner Goldklumpen. Sie beugte sich vor. Bevor sie ihn sich genau ansehen konnte, machte er die Hand wieder zu und schob sie zurück in seine Tasche. Er hatte immer noch kein Wort von sich gegeben. Ilinaja musterte sein Gesicht. Er hatte blutunterlaufene, betrunkene Augen, und sie mochte ihn überhaupt nicht. Aber es gab schließlich viele Leute, die sie nicht mochte, und sie mochte gewiss keinen der Männer, mit denen sie schlief. Wenn sie wählerisch werden wollte, konnte sie das Ganze auch gleich abblasen, einen von den Einheimischen heiraten und sich darin fügen, für immer in dieser Stadt zu bleiben. Ihre Familie wohnte in Leningrad, und auch sie hatte dort gelebt, bis man ihr befohlen hatte, hierher zu ziehen, in eine Stadt, von der sie noch nie gehört hatte. Ihre einzige Möglichkeit, zurück nach Leningrad zu kommen, war, genügend Geld zu sparen, um die Behörden zu bestechen. Hochrangige, mächtige Freunde hatte sie nicht, also brauchte sie dieses Gold.
Der Mann schenkte ihr nach und sprach sein erstes Wort. »Trink.«
»Erst bezahlst du mich. Danach kannst du mir sagen, was ich zu machen habe. Das ist die Regel. Übrigens die einzige Regel.«
Das Gesicht des Mannes geriet in Bewegung, so als hätte man einen Stein ins Wasser geworfen. Eine Sekunde lang konnte sie unter seiner gleichgültigen, plumpen Fassade etwas anderes erkennen, etwas Abstoßendes. Am liebsten hätte sie den Kopf abgewandt. Aber das Gold sorgte dafür, dass sie ihn weiter ansah, das Gold hielt sie auf diesem Stuhl. Er zog das Klümpchen aus der Tasche und hielt es ihr hin. Als sie die Hand ausstreckte und es von seiner feuchten Handfläche nahm, packte er zu und umklammerte ihre Finger. Es tat nicht weh, aber trotzdem waren ihre Finger gefangen. Entweder ergab sie sich seinem Klammergriff oder sie zog die Hand heraus, ohne Gold. Sie erriet, was von ihr erwartet wurde, kicherte und lachte wie ein hilfloses Mädchen und ließ den Arm hängen. Er ließ los. Sie nahm das Klümpchen und musterte es. Es hatte die Form eines Zahns. Verwirrt schaute sie den Mann an. »Wo hast du den denn her?«
»In schweren Zeiten verkaufen die Leute alles, was sie haben.« Er lächelte, und ihr wurde übel. Was war denn das für ein Zahlungsmittel? Er schüttete Wodka nach. Der Zahn war ihr Fahrschein von hier weg. Sie trank ihr Glas aus.
Ilinaja blieb stehen. »Arbeitest du im Sägewerk?«
Sie wusste, dass er das nicht tat, aber die einzigen Häuser, die es hier gab, waren die für die Sägewerksarbeiter. Er bequemte sich nicht einmal, ihr zu antworten.
»He! Wo gehen wir hin?«
»Wir sind fast da.« Er führte sie zum Bahnhof am Stadtrand. Das Bahnhofsgebäude selbst war zwar neu, aber es lag in einem der ältesten Bezirke der Stadt, der nur aus baufälligen hölzernen Einzimmerhütten mit Blechdächern bestand, die sich in den nach Abwasser stinkenden Straßen aneinanderreihten.
Die Hütten waren für die Leute vom Sägewerk. Zu fünft, sechst oder gar siebt hausten sie in einem Raum. Für das, was Ilinaja und der Mann vorhatten, nicht gerade ideal.
Es herrschte eine Eiseskälte. Ilinaja wurde langsam wieder nüchtern, und die Füße taten ihr weh. »Das geht alles von deiner Zeit ab. Der Goldklumpen ist gut für eine Stunde, so war es ausgemacht. Abzüglich der Zeit, die ich brauche, um wieder ins Restaurant zurückzukommen, hast du ab jetzt noch zwanzig Minuten.«
»Es ist hinterm Bahnhof.«
»Da hinten kommt doch nur noch Wald.«
»Wirst schon sehen.« Er marschierte weiter, bis er neben dem Bahnhof war, und deutete in die Dunkelheit.
Sie schob sich die Hände in die Jackentaschen, schloss zu ihm auf und spähte in die Richtung, in die er zeigte. Sie sah nur Gleise, die sich in der Dunkelheit verloren, sonst nichts.
»Was gibt’s denn da zu sehen?«
»Das da.« Er deutete auf ein kleines Blockhaus an den Gleisen, nicht weit vom Waldrand entfernt. »Ich bin Ingenieur. Ich arbeite für die Eisenbahn. Die Hütte gehört der Gleismeisterei. Da sind wir für uns.«
»In einem Zimmer wären wir auch für uns.«
»Da, wo ich wohne, kann ich dich nicht mit hinnehmen.«
»Ich kenne ein paar Orte, wo wir hätten hingehen können.«
»So ist es besser.«
»Nicht für mich.«
»Es gab eine Regel. Ich zahle, du gehorchst. Entweder gibst du mir mein Gold wieder oder du machst, was ich sage.«
Das Gold war das einzig Gute an der Sache. Er streckte die Hand aus und wartete, dass sie ihm den Zahn zurückgab. Weder sah er wütend aus, noch enttäuscht oder ungeduldig. Seine Gleichgültigkeit fand Ilinaja ermutigend. Sie ging auf das Blockhaus zu. »Du hast zehn Minuten da drinnen, abgemacht?«
Er antwortete nicht, was sie als Ja auffasste.
Das Blockhaus war verschlossen, aber er hatte einen Schlüsselbund, und nachdem er mühselig den richtigen Schlüssel herausgefischt hatte, kämpfte er mit dem Schloss. »Es ist eingefroren.«
Statt einer Antwort wandte sie nur den Kopf ab und seufzte zum Zeichen ihres Unmuts. Diskretion war ja schön und gut, und sie hatte gleich geahnt, dass er verheiratet war. Aber er lebte doch nicht einmal in dieser Stadt, wo war also das Problem? Vielleicht übernachtete er bei Verwandten oder Freunden, oder er war ein hochrangiges Parteimitglied. Ihr war das schnuppe. Sie wollte nur die nächsten zehn Minuten möglichst schnell hinter sich bringen.
Er kauerte sich hin, formte die Hände um das Vorhängeschloss zu einem Trichter und hauchte es an. Der Schlüssel glitt hinein, und das Schloss schnappte auf. Ilinaja blieb draußen stehen. Wenn es hier kein Licht gab, konnte er die Sache gleich vergessen, und den Goldzahn würde sie trotzdem behalten. Sie hatte dem Kerl mehr als genug Zeit gelassen. Wenn er sie mit einer Expedition nach nirgendwo verplempern wollte, war das seine Sache.