Er betrat das Blockhaus und verschwand in der Dunkelheit. Sie hörte ihn ein Streichholz anzünden. Eine Sturmlampe flackerte auf. Der Mann drehte die Flamme hoch und hängte die Lampe an einen verbogenen Haken, der aus dem Dach ragte. Sie linste hinein. Das Blockhaus war voller Ersatzgleise, Schrauben, Bolzen, Werkzeug und Holz. Es roch nach Teer. Er fing an, eine der Werkbänke frei zu räumen. Ilinaja lachte. »Da kriege ich ja Splitter in den Hintern.«
Zu ihrer Überraschung wurde er rot wie ein Schuljunge. Er breitete seinen Mantel auf der Arbeitsfläche aus. Sie trat ein. »Wie galant.«
Normalerweise zog sie den Mantel aus, setzte sich vielleicht aufs Bett und rollte einen Strumpf herunter, gab eine kleine Vorstellung. Aber ohne Bett und Heizung würde sie lediglich ihr Kleid lüpfen und die restlichen Sachen anbehalten.
»Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich den Mantel anlasse.« Sie schloss die Tür, obwohl das wahrscheinlich auch keinen großen Temperaturunterschied bedeutete. Hier drin war es fast so kalt wie draußen. Ilinaja wandte sich um.
Der Mann war jetzt viel näher bei ihr, als sie in Erinnerung hatte. Für einen Sekundenbruchteil sah sie etwas Metallisches, das auf sie zukam. Es ging zu schnell, als dass sie hätte erkennen können, was es war. Es traf sie seitlich im Gesicht. Schmerz durchfuhr sie, breitete sich vom Kopfüber die Wirbelsäule hinunter in die Beine aus, die Muskeln erschlafften und die Beine knickten ein, als ob man die Sehnen durchtrennt hätte. Sie schlug rückwärts gegen die Tür, sah nur noch verschwommen, ihr Gesicht brannte, sie hatte Blut im Mund. Gleich würde sie umkippen, ohnmächtig werden, aber sie kämpfte dagegen an, zwang sich, wach zu bleiben, und konzentrierte sich auf seine Stimme. »Du machst genau, was ich dir sage.«
Würde er von ihr ablassen, wenn sie sich ihm unterwarf? Die Zahnsplitter, die sich ihr in den Gaumen bohrten, belehrten sie eines Besseren. Auf die Gnade dieses Kerls konnte sie sich nicht verlassen. Wenn sie schon in dieser elenden Stadt verrecken muss-te, in die irgendein staatlicher Zwangserlass sie verfrachtet hatte, 1700 Kilometer weit weg von ihrer Familie, dann würde sie diesem Scheißkerl wenigstens vorher noch die Augen auskratzen.
Er umklammerte ihre Arme, vermutlich glaubte er, aller Widerstand sei gebrochen. Ilinaja spuckte ihm einen Mundvoll blutigen Schleim in die Augen. Damit hatte er wohl nicht gerechnet, er ließ los. Sie tastete nach der Tür hinter sich und drückte dagegen. Die Tür schwang auf, und Ilinaja fiel rücklings nach draußen in den Schnee, blieb auf dem Rücken liegen und starrte in den Himmel. Der Mann langte nach ihren Beinen. Wild um sich tretend versuchte sie, von ihm wegzukommen. Er erwischte einen Fuß und zog sie zurück in die Hütte. Sie konzentrierte sich und zielte, ihre Ferse erwischte ihn am Kinn. Das hatte gesessen. Sein Kopf flog herum, sie hörte ihn aufjaulen. Er konnte sie nicht mehr festhalten. Sie rollte sich auf den Bauch, rappelte sich hoch und stolperte los.
Blindlings taumelnd registrierte sie erst nach einigen Sekunden, dass sie geradewegs die Gleise entlang und weg von der Stadt und vom Bahnhof gerannt war. Weg vom rettenden Ufer. Ihr Instinkt hatte ihr befohlen, vor ihm davonzulaufen, und ihr dabei einen Streich gespielt. Sie warf einen schnellen Blick hinter sich. Der Kerl verfolgte sie. Entweder lief sie in dieser Richtung weiter oder wieder auf ihn zu, sonst blieb ihr keine Möglichkeit. Sich an ihm vorbeizumogeln, war unmöglich. Ilinaja versuchte zu schreien, aber ihr Mund war voller Blut. Sie verschluckte sich und spuckte aus, kam aus dem Tritt und verlor etwas an Vorsprung. Der Mann holte auf.
Plötzlich begann die Erde zu erzittern. Ilinaja schaute hoch. Ein Güterzug näherte sich, jagte auf sie zu, aus seinem hoch aufragenden eisernen Bug stoben Dampfwolken. Sie riss die Hände hoch und wedelte. Aber selbst wenn der Zugführer sie bemerkte, würde er nicht mehr rechtzeitig bremsen können bei den knapp 500 Metern, die noch zwischen ihnen lagen. Nur noch Sekunden bis zum Zusammenprall. Trotzdem verließ sie die Schienen nicht, sondern lief weiter auf den Zug zu, noch schneller. Sie würde sich unter ihn werfen. Es machte nicht den Anschein, als bremse der Zug ab, kein metallisches Bremsenquietschen, kein Pfeifen. Er war jetzt so nah, dass die Vibration sie regelrecht durchschüttelte.
Im nächsten Moment würde der Zug sie überrollen. Ilinaja warf sich zur Seite, weg von den Gleisen, die Böschung hinunter und in den hohen Schnee. Lok und Waggons rasten vorbei, die Erschütterung löste den Schnee von den Wipfeln der nächststehenden Bäume. Außer Atem spähte sie hinter sich in der Hoffnung, dass ihr Verfolger überfahren, vom Zug überrollt worden war oder doch wenigstens auf der anderen Seite festsaß. Aber er hatte die Nerven behalten, war ebenfalls auf ihre Seite der Gleise gesprungen und lag genau wie sie im Schnee. Jetzt stand er auf und taumelte auf sie zu.
Sie spuckte Blut aus und schrie, schrie verzweifelt um Hilfe. Aber es war ein Güterzug, da war niemand, der sie hätte sehen oder hören können. Ilinaja rappelte sich hoch und rannte, bis sie den Waldrand erreichte, rannte weiter, stieß gegen vorstehende Äste. Sie würde einen großen Bogen schlagen und dann hinter ihm auf den Gleisen zur Stadt zurückzulaufen. Hier konnte sie sich nicht verstecken. Er war zu nah, und der Mond schien zu hell. Obwohl sie wusste, dass sie sich lieber aufs Rennen konzentrieren sollte, gab sie der Versuchung nach. Sie musste sich einfach vergewissern, musste wissen, wo er war. Ilinaja wandte sich um.
Er war weg. Sie konnte ihn nicht mehr sehen. Immer noch donnerte der Zug vorbei. Offenbar hatte sie ihn abgeschüttelt, als sie in den Wald hineinlief. Sie machte kehrt und rannte zurück in Richtung Stadt. Da war sie in Sicherheit.
Der Mann trat hinter einem Baum hervor und bekam sie am Handgelenk zu fassen. Beide fielen sie in den Schnee. Er war über ihr, riss an ihrem Mantel und brüllte sie an, aber wegen des Zuglärms konnte sie ihn nicht verstehen, sah nur seine Zähne und seine Zunge. Erst da fiel ihr wieder ein, dass sie ja Vorkehrungen für eine solche Situation getroffen hatte. Sie griff in ihre Manteltasche und tastete nach einem Meißel, den sie auf der Arbeit hatte mitgehen lassen. Schon einmal hatte sie ihn benutzt, aber nur um zu drohen, nur um zu zeigen, dass sie zur Not auch kämpfen konnte. Ihre Hand umklammerte den Holzgriff. Es musste beim ersten Mal klappen. Als er ihr die Hand unters Kleid schob, schlug sie ihm die Meißelspitze seitlich an den Kopf. Er fuhr hoch und hielt sich das Ohr. Sie schlug noch einmal zu, und diesmal erwischte sie die Hand, die das Ohr hielt. Sie hätte immer weiter auf ihn einhauen sollen, hätte ihn umbringen sollen, aber ihr Verlangen, hier wegzukommen, war einfach zu groß. Wie ein Insekt krabbelte sie auf allen vieren rückwärts, immer noch den blutigen Meißel in der Hand.
Der Mann ließ sich auf Hände und Knie fallen und kroch hinter ihr her. Ein Teil seines Ohrläppchens hing herunter, baumelte nur noch an einem Fetzen Haut, sein Gesicht war wutverzerrt. Er angelte nach ihren Knöcheln, aber es gelang ihr knapp, ihm zu entwischen und schneller zu krabbeln als er, bis sie rücklings gegen einen Baumstamm stieß. Er holte auf und erwischte ihren Fuß. Sie hieb und stieß nach seiner Hand, aber er packte sie am Handgelenk und zog sie auf sich zu. Sein Gesicht war ganz nah an ihrem, sie ließ ihren Kopf vorschnellen und versuchte, ihm in die Nase zu beißen. Mit der freien Hand packte er sie am Hals und drückte zu, hielt sie auf Distanz. Ilinaja rang nach Atem und versuchte sich loszureißen, aber sein Griff war zu fest. Sie bekam keine Luft mehr und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht zur Seite. Beide fielen übereinander und wälzten sich über- und untereinander im Schnee.