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Merkwürdigerweise ließ er plötzlich ihren Hals los. Sie hustete und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Der Mann lag immer noch auf ihr, sein Gewicht drückte sie zu Boden, aber er sah sie nicht mehr an. Etwas anderes hielt seine Aufmerksamkeit gefangen, etwas neben ihnen. Ilinaja wandte den Kopf.

Neben ihr im Schnee lag die nackte Leiche eines jungen Mädchens. Ihre Haut war blass, beinahe durchscheinend. Sie hatte blondes, fast weißes Haar. Ihr Mund stand weit offen und war vollgestopft mit Erde, ein Kegel wie ein Ameisenhügel, der sich zwischen den dünnen blauen Lippen auftürmte. Arme, Beine und Gesicht des Mädchens schienen unverletzt zu sein, sie waren mit einer Schneedecke bedeckt, die zerdrückt worden war, als sie sich daraufgerollt hatten. Aber der Torso war übel zugerichtet. Die Organe lagen frei, und ein Großteil der Haut fehlte, war weggeschnitten oder zurückgeklappt, so als wäre sie von einem Rudel Wölfe attackiert worden.

Ilinaja starrte ihren Verfolger an. Er schien sie vollkommen vergessen zu haben, er stierte nur auf die Leiche des Mädchens Dann begann er zu würgen, beugte sich vor und übergab sich. Reflexartig legte sie ihm eine tröstende Hand auf die Schulter. Dann kam sie wieder zu sich und ihr wurde bewusst, was für ein Mann das war und was er ihr angetan hatte. Sie zog die Hand zurück, sprang auf und rannte. Diesmal spielte der Instinkt ihr keinen Streich. Sie erreichte den Waldrand und lief in Richtung Bahnhof. Sie wusste nicht, ob der Mann ihr folgte oder nicht. Diesmal versuchte sie nicht zu schreien, wurde auch nicht langsamer und sah sich nicht mehr um.

Moskau

14. März

Leo machte die Augen auf. Eine Taschenlampe blendete ihn. Er brauchte nicht auf die Uhr sehen, um zu wissen, wie spät es war. Vier Uhr - die Zeit für Verhaftungen. Er sprang aus dem Bett, sein Herz schlug wie wild. Er taumelte in der Dunkelheit, prallte gegen einen Mann, wurde zur Seite gestoßen. Er strauchelte, fand das Gleichgewicht wieder. Das Licht ging an. Als seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, erkannte er drei Beamte, junge Burschen, kaum älter als achtzehn. Sie waren bewaffnet. Leo kannte sie nicht, aber er wusste, welche Sorte das war: niederer Rang, dumpfer Gehorsam. Sie würden jeden Befehl ausführen, den man ihnen gab. Ohne mit der Wimper zu zucken, würden sie Gewalt anwenden. Würden jedem noch so kleinen Widerstand mit extremer Brutalität begegnen. Sie rochen nach Zigarettenqualm und Alkohol, und Leo vermutete, dass sie gar nicht schlafen gegangen waren. Sie hatten sich für diesen Auftrag die Nacht mit Trinken um die Ohren geschlagen. Bestimmt hatte der Alkohol sie launisch und unberechenbar gemacht. Leo musste auf der Hut sein und sich unterwürfig geben, wenn er die nächsten Minuten überleben wollte. Er konnte nur hoffen, dass Raisa das auch verstanden hatte.

Raisa stand in ihrem Nachthemd da und zitterte, allerdings nicht vor Kälte. Sie wusste selbst nicht, ob aus Schock, Angst oder Wut, aber sie konnte einfach nicht aufhören zu schlottern. Doch sie würde den Blick nicht abwenden. Sie schämte sich nicht. Sollten sie sich doch selbst ihrer Übertretungen schämen, sollten sie doch ruhig ihre zerknitterten Kleider sehen, ihr wirres Haar.

Nein, denen war das gleichgültig, es juckte sie gar nicht. Für die gehörte das einfach dazu. In den Augen dieser jungen Kerle war keinerlei Mitgefühl zu entdecken. Teilnahmslos glotzten sie hin und her, wie Eidechsen oder Fische. Mit Reptilienaugen. Wo fand der MGB nur Burschen mit solch bleiernen Seelen? Er machte sie erst zu dem, was sie waren, daran hatte Raisa keinen Zweifel. Sie schielte zu Leo hinüber. Er stand mit hängenden Armen da, den Kopf gesenkt, und vermied jeden Augenkontakt. Ein Bild von Demut und Unterwerfung. Vielleicht war es ja klug, diesen Anschein zu erwecken. Aber ihr war im Moment nicht danach, klug zu sein. Da waren drei Schläger in ihrem Schlafzimmer. Sie wollte, dass er ihnen trotzte, wütend wurde. Das wäre doch wohl die natürliche Reaktion. Aber selbst jetzt taktierte Leo noch.

Einer der Männer verließ das Zimmer, kam aber beinahe sofort zurück und hielt zwei Koffer in den Händen: »Mehr, als hier reinpasst, dürft ihr nicht mitnehmen. Und das, was ihr am Leib habt und eure Papiere. In einer Stunde geht’s los, ob ihr fertig seid oder nicht.«

Leo starrte den Koffer an, einen mit Segeltuch bezogenen Holzrahmen. Viel Platz bot er nicht, gerade mal genug für eine Tagesreise. »Zieh so viel an, wie du kannst.«

Er blickte sich verstohlen um. Einer der Beamten beobachtete sie rauchend. »Können Sie bitte draußen warten?«

»Verschwende meine Zeit nicht mit Sonderwünschen. Die Antwort auf alles lautet nein.«

Raisa zog sich um und spürte, wie die Reptilienaugen der Wache über ihren Körper wanderten. Sie zog so viele Kleidungsstücke übereinander, wie es überhaupt nur ging, eine Schicht nach der anderen. Leo machte dasselbe. Unter anderen Umständen wäre es vielleicht komisch gewesen, wie ihre Gliedmaßen vor Baumwolle und Wolle nur so anschwollen. Kaum war sie fertig angezogen, kämpften sie mit der Frage, welche ihrer Habseligkeiten sie mitnehmen sollten und welche sie notgedrungen zurücklassen mussten. Raisa musterte den Koffer. Er war gerade mal 90 Zentimeter lang, vielleicht 60 breit und 20 hoch. Sie mussten ihr Leben gewaltig einschränken, damit es da hineinpasste.

Leo war sich darüber im Klaren, dass man ihnen möglicherweise nur befohlen hatte zu packen, damit man sie ohne großes Gezeter hier herausbekam, ohne die Kämpfe, die immer mit der Erkenntnis einhergingen, dass man in den Tod geschickt wurde. Es war auf jeden Fall einfacher, Leute abzutransportieren, wenn die sich an die - egal wie kleine - Hoffnung klammerten, dass sie überleben könnten. Aber was sollte er schon machen? Aufgeben? Kämpfen? Rasch stellte er ein paar Berechnungen an. Wertvollen Platz musste er opfern für das >Buch der Propagandisten und den >Kurzen Lehrgangs weil man beide nicht zurücklassen konnte, ohne dass es einem als subversive politische Haltung ausgelegt wurde. In ihrer gegenwärtigen Situation wären solche Unbekümmertheiten selbstmörderisch. Er griff sich die Bücher und legte sie in den Koffer. Es waren die ersten Teile, die einer von ihnen überhaupt einpackte. Der junge Wachsoldat beobachtete alles, registrierte, was eingepackt wurde, was sie auswählten. Leo berührte Raisa am Arm.

»Pack unsere Schuhe ein. Nimm die besten, für jeden ein Paar.«

Schuhe waren schwer zu bekommen, die konnte man gut eintauschen.

Leo sammelte Kleidungsstücke zusammen, Wertgegenstände und ihre Fotos. Fotografien von ihrer Hochzeit und von seinen Eltern Stepan und Anna. Von Raisas Familie gab es nichts. Sie waren im Großen Vaterländischen Krieg umgekommen, als man ihr Dorf dem Erdboden gleichgemacht hatte. Raisa hatte alles verloren außer den Kleidern, die sie am Leib trug. Als sein Koffer voll war, fiel Leos Blick auf das gerahmte Foto von sich selbst, dem Kriegshelden, dem Panzerknacker, dem Befreier des besetzten Heimatlandes. Er nahm die Fotografie aus dem Rahmen. Nachdem er sie jahrelang sorgsam gehütet und verehrt hatte wie eine heilige Ikone, faltete er den Zeitungsausschnitt jetzt in der Mitte zusammen und warf ihn in den Koffer.

Ihre Zeit war um. Leo machte seinen Koffer zu, Raisa den ihren. Er fragte sich, ob sie diese Wohnung jemals wiedersehen würden. Vermutlich nicht.

Man eskortierte sie nach unten. Fünf Personen quetschten sich dicht aneinandergedrängt in den Lift. Unten wartete ein Wagen. Zwei Beamte setzten sich nach vorne, der dritte nach hinten, eingeklemmt zwischen Leo und Raisa. Er stank aus dem Mund.

»Ich würde gern noch bei meinen Eltern vorbeifahren. Ich möchte mich von ihnen verabschieden.«