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»Keine Sonderwünsche, verdammt noch mal.«

***

Es war fünf Uhr morgens, und in der Bahnhofshalle herrschte schon Hochbetrieb. Überall Soldaten, zivile Reisende und Bahnhofspersonal, und alles wuselte um die Transsibirische Eisenbahn herum. Auf der Lok, die noch aus Kriegszeiten mit Eisenplatten gepanzert war, stand in großen, erhabenen Lettern: HEIL DEM KOMMUNISMUS. Während Reisende bereits in den Zug einstiegen, warteten Leo und Raisa noch mit ihren Köfferchen am Ende des Bahnsteigs, zu beiden Seiten von ihrer bewaffneten Eskorte flankiert. Niemand kam ihnen auf dem belebten Bahnhof zu nahe, gerade so, als seien sie von einem ansteckenden Virus befallen. Sie kamen sich vor wie in einer Blase. Weder hatte man ihnen irgendwelche Erklärungen gegeben, noch hatte Leo sich die Mühe gemacht nachzufragen. Er hatte keine Ahnung, wohin sie fuhren oder auf wen sie warteten. Es bestand immer noch die Möglichkeit, dass man sie in verschiedene Gulags schickte und sie einander nie Wiedersehen würden. Andererseits war dies ganz eindeutig ein Personenzug, und Leo hatte auch noch keine Zak-Waggons entdeckt, die roten Viehwagen, mit denen man die Gefangenen transportierte. Würden sie am Ende mit heiler Haut davonkommen? Bisher hatten sie jedenfalls Glück gehabt. Sie waren immer noch am Leben und immer noch zusammen. Es war mehr, als Leo zu hoffen gewagt hatte.

Nach seiner Aussage hatte man ihn nach Hause geschickt und bis zum Zeitpunkt einer Entscheidung unter Hausarrest gestellt. Er hatte damit gerechnet, dass es nicht länger als einen Tag dauern würde. Auf dem Weg zu ihrer Wohnung, auf dem Treppenabsatz zum 14. Stock, fiel ihm ein, dass er immer noch die belastende hohle Münze in der Tasche hatte. Er warf sie über die Brüstung. Vielleicht hatte Wassili sie ihnen untergeschoben, vielleicht auch nicht. Was spielte das schon für eine Rolle?

Als Raisa aus der Schule nach Hause gekommen war, hatte sie vor der Tür zwei Beamte vorgefunden. Sie war durchsucht worden, danach hatte man ihr befohlen, in der Wohnung zu bleiben. Leo hatte sie über ihre missliche Lage aufgeklärt, über den gegen sie erhobenen Verdacht, seine persönlich durchgeführten Ermittlungen und seine Weigerung, die Anschuldigungen zu bestätigen. Er musste ihr nicht erklären, dass ihre Chancen zu überleben hauchdünn waren. Er hatte geredet, sie hatte reglos zugehört. Kein Kommentar, keine Frage. Als er geendet hatte, war ihre Reaktion für ihn überraschend gekommen.

»Es war naiv zu glauben, dass uns das nicht auch passieren könnte.«

Sie hatten in der Wohnung gesessen und damit gerechnet, dass der MGB jede Minute kommen würde. Weder sie noch er hatten sich darum gekümmert, etwas zu essen zu machen, sie waren beide nicht hungrig, obwohl es angesichts dessen, was ihnen möglicherweise bevorstand, vernünftig gewesen wäre, so viel wie möglich zu essen. Sie hatten sich nicht ausgezogen und nicht ins Bett gelegt, hatten sich nicht vom Küchentisch gerührt. Schweigend hatten sie dagesessen und gewartet. Angesichts der Tatsache, dass sie sich vielleicht nie wiedersehen würden, hatte Leo das Bedürfnis verspürt, mit seiner Frau zu reden, ihr all die Dinge zu sagen, die noch gesagt werden mussten. Aber es war ihm nicht eingefallen, was das sein könnte. Solange er sich erinnern konnte, war dies die längste Zeit gewesen, die sie je an einem Stück und von Angesicht zu Angesicht miteinander verbracht hatten. Und keiner von ihnen hatte gewusst, was er mit dieser Zeit anstellen sollte.

In dieser Nacht war das Klopfen an der Tür nicht gekommen. Vier Uhr nachts war vorbei, und keine Verhaftung. Als es dann Mittag wurde, bereitete Leo schließlich ein Frühstück zu. Er fragte sich, warum es so lange dauerte. Als es endlich das erste Mal an der Tür klopfte, sprangen sie keuchend auf, weil sie erwarteten, dass dies das Ende war. Die Geheimdienstler waren da, um sie abzuholen, voneinander zu trennen und separat zu verhören. Aber es waren immer nur harmlose Angelegenheiten. Die Wache wechselte, ein Beamter wollte aufs Klo, konnte man ihnen was zu essen abkaufen? Vielleicht fanden sie einfach keine Beweise, vielleicht war ihre Unschuld erwiesen und die Anklage in sich zusammengefallen. Aber Leo hatte sich dieser Illusion nur kurz hingegeben. Aus Mangel an Beweisen wurden Anklagen nie und nimmer fallengelassen. Dennoch, aus einem Tag wurden zwei und aus zwei vier.

Nach einer Woche ihres Arrests war eines Tages einer der Beamten mit aschfahlem Gesicht zu Leo und Raisa in die Wohnung gekommen. Jetzt war es so weit. Stattdessen aber hatte der Mann ihnen mit bebender Stimme verkündet, ihr Führer Stalin sei tot. Erst in diesem Moment hatte Leo sich an ein Fünkchen Hoffnung geklammert, ob sie nicht vielleicht doch eine Chance hatten zu überleben.

Die Zeitungen waren hysterisch gewesen, die Wachen ebenso, aber an Fakten zu Stalins Tod war kaum heranzukommen. Schließlich hatte sich Leo mühsam zusammengereimt, dass Stalin friedlich in seinem Bett gestorben war. Seine letzten Worte hatten angeblich ihrem großartigen Land und dessen großartiger Zukunft gegolten. Leo hatte das keine Sekunde lang geglaubt. Er kannte sich zu gut mit Paranoia und Komplotten aus, um nicht die Schwachstellen an der Geschichte zu erkennen. Von seiner Arbeit her wusste er, dass Stalin erst kürzlich im Rahmen einer Säuberungsaktion gegen bekannte jüdische Bürger die berühmtesten Ärzte hatte verhaften lassen. Ärzte, die ihr ganzes Berufsleben damit verbracht hatten, ihn bei guter Gesundheit zu erhalten. Es konnte kein Zufall sein, dass Stalin genau dann eines angeblich natürlichen Todes gestorben war, als es keine medizinischen Fachkräfte mehr gab, die den Grund für seine plötzliche Erkrankung hätten herausfinden können. Auch wenn man alle moralischen Bedenken beiseite schob, war Stalins Säuberungsaktion schon allein aus taktischen Erwägungen ein Fehler gewesen. Damit hatte er sich selbst entblößt. Leo hatte keinen blassen Schimmer, ob Stalin ermordet worden war oder nicht. Aber dass seine Ärzte verhaftet worden waren, hatte mutmaßlichen Attentätern zumindest freie Hand gelassen. Sie hatten sich lediglich zurücklehnen und abwarten müssen, bis er starb, in der Gewissheit, dass eben die Männer und Frauen, die sie hätten aufhalten können, hinter Gittern saßen. Aber es war natürlich auch möglich, dass Stalin ganz einfach krank geworden war und niemand gewagt hatte, sich über seine Befehle hinwegzusetzen und die Ärzte freizulassen. Denn wenn Stalin wieder gesund geworden wäre, hätte man sie möglicherweise wegen Ungehorsams hingerichtet.

Aber eigentlich war Leo diese Augenwischerei egal. Wichtig war nur, dass der Mann tot war. Jedermanns Gefühl für Ordnung und alle Gewissheit hatte sich plötzlich in Luft aufgelöst. Welche Leute würden Stalins Nachfolge antreten? Wie würden sie das Land führen? Was für Entscheidungen würden sie fällen? Welche Beamten würden begünstigt und welche abgesägt werden? Was unter Stalin erlaubt gewesen war, wäre es unter eine neuen Führung vielleicht nicht mehr. Allein schon die Abwesenheit eines allmächtigen Führers sorgte für eine vollständige Lähmung des Apparats. Niemand war bereit, irgendwelche Entscheidungen zu treffen, bevor er nicht wusste, dass diese Entscheidungen auch gutgeheißen wurden. Jahrzehntelang hatte keiner mehr Entscheidungen aus Überzeugung gefällt, sondern nur noch im Hinblick darauf, was Stalin gefallen würde. Leben und Tod von Menschen hatten davon abgehangen, mit welchen Anmerkungen er Listen versehen hatte. Ein unterstrichener Name bedeutete, dass der Betreffende am Leben blieb, die anderen waren dem Tode geweiht. So einfach war das Rechtssystem - unterstrichen oder nicht. Wenn er die Augen schloss, konnte Leo sich das stumme Entsetzen in der Lubjanka jetzt lebhaft vorstellen. Sie hatten ihren eigenen moralischen Kompass derart ignoriert, dass er mittlerweile gar nicht mehr funktionierte. Aus Norden war Süden und aus Osten Westen geworden. Aber was war richtig? Sie wussten es nicht. Sahen sich außerstande, Entscheidungen zu treffen. In solchen Zeiten war es am sichersten, wenn man so wenig tat wie möglich.