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Den problematischen Fall eines Leo Stepanowitsch Demidow und seiner Frau Raisa Gawrilowna Demidowa, der ohne Frage dazu angetan war, Uneinigkeit und Aufruhr zu stiften, schob man unter diesen Umständen am besten erst einmal beiseite. Darum war es zu diesen Verzögerungen gekommen. Niemand wollte sich mit der Sache befassen, alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich mit den neuen Machtgruppierungen im Kreml zu arrangieren. Um die Sache noch zu verkomplizieren, hatte Lawrenti Be-ria, Stalins engster Berater - wenn irgendjemand Stalin vergiftet hatte, dann er, vermutete Leo -, sich bereits als neuer Führer in Pose geworfen und die Idee verworfen, es habe ein Komplott der Ärzte gegeben. Er hatte angeordnet, sie wieder freizulassen. Verdächtige wurden freigelassen, weil sie unschuldig waren - was war denn jetzt los? Leo konnte sich an keinen Präzedenzfall erinnern. Vielleicht hielt man es ja unter solchen Gegebenheiten für riskant, einem hochdekorierten Kriegshelden, der es sogar auf die Titelseite der >Prawda< geschafft hatte, den Prozess zu machen. Und als es am 6. März an der Tür geklopft hatte, hatte man Leo und Raisa nicht etwa ihr Schicksal offenbart, sondern ihnen gewährt, dem Staatsbegräbnis des großen Führers beizuwohnen.

Leo und Raisa, die offiziell immer noch unter Hausarrest standen, schlössen sich also pflichtschuldigst in Begleitung zweier Bewacher den Menschenmassen an, die auf dem Weg zum Roten Platz waren. Viele weinten, manche sogar herzzerreißend, Männer, Frauen und Kinder. Leo fragte sich, ob es unter den Hunderttausenden, die sich hier in kollektiver Trauer versammelt hatten, einen Einzigen gab, der nicht irgendeinen Verwandten oder Freund an diesen Mann verloren hatte, den man jetzt öffentlich beweinte. Die Atmosphäre war aufgeladen mit einer überwältigenden Tristesse, was vielleicht mit der Idolisierung dieses Toten zu tun hatte. Selbst bei den brutalsten Verhören hatte Leo viele Leute schreien hören, dass Stalin bestimmt eingreifen würde, wenn er nur von diesen Exzessen des MGB wüsste. Was auch immer der wahre Grund für diese Trauer war, auf jeden Fall war das Begräbnis ein legitimes Ventil für in Jahren aufgestauten Jammer, eine Gelegenheit zu weinen, seinen Nachbarn zu umarmen und seine Betrübnis zu zeigen. Zuvor war das nicht erlaubt gewesen, weil es ja Kritik am Staat beinhaltete.

Die Hauptstraßen waren derart verstopft mit Menschen, dass man kaum atmen und sich nur mit den Massen weitertreiben lassen konnte. Die ganze Zeit ließ Leo Raisas Hand nicht los, und während sich von allen Seiten fremde Schultern an ihn drückten, drehte er sich immer wieder um, um sich zu vergewissern, dass sie nicht auseinandergerissen wurden. Von ihren Wachen waren sie schon sehr schnell getrennt worden. Als sie sich dem Platz näherten, wurde die Menschenmasse noch dichter zusammengedrängt. Als er den Druck und die sich steigernde Hysterie bemerkte, entschied Leo, dass es genug war. Durch Zufall waren sie an den Rand der Menge gedrängt worden. Er drückte sich in einen Hauseingang und half Raisa aus dem Pulk heraus. Hier suchten sie Schutz und sahen zu, wie sich die Ströme von Menschen weiter an ihnen vorbeischoben. Es war die richtige Entscheidung gewesen. Weiter vorne waren schon Leute zu Tode getrampelt worden.

In dem Chaos hätten sie versuchen können zu fliehen. Sie hatten auch darüber nachgedacht und sich flüsternd in dem Hauseingang beraten. Ihre Wachen hatten sie ja verloren. Raisa hatte fliehen wollen. Aber wenn sie das taten, hätten sie dem MGB einen Grund geliefert, sie zu exekutieren. Bislang hatten sie Glück gehabt. Leo setzte auf die eine Karte, dass sie es überstehen würden.

***

Die letzten Reisenden waren eingestiegen. Aber der Schaffner, der neben der Lok ein Grüppchen Uniformierter stehen sah, hielt den Zug noch für sie auf. Der Lokführer lehnte sich aus dem Führerhaus und versuchte herauszubekommen, was los war. Durch die Fenster warfen neugierige Reisende verstohlene Blicke auf das junge Paar, das offenbar in Schwierigkeiten steckte.

Leo bemerkte, dass ein Uniformierter sich ihnen näherte. Es war Wassili. Leo hatte schon mit ihm gerechnet. Wassili würde sich kaum die Gelegenheit entgehen lassen, ihn zu demütigen.

Leo spürte, wie die Wut in ihm aufstieg, aber es war unbedingt notwendig, dass er sich beherrschte. Vielleicht wurde ihm noch eine Falle gestellt.

Raisa war Wassili noch nie begegnet, aber sie kannte Leos Beschreibung. Ein Heldengesicht mit dem Herzen eines Henkers.

Schon auf den ersten Blick sah sie, dass irgendetwas mit dem Mann nicht stimmte. Zweifellos war er attraktiv, aber auf eine Weise, als sei dieses Lächeln nur dazu da, seine Böswilligkeit zu unterstreichen. Als er sie schließlich erreichte, registrierte sie seine Befriedigung beim Anblick von Leos Erniedrigung und seine Enttäuschung darüber, dass diese nicht größer war.

Wassili grinste jetzt breit. »Ich habe darauf bestanden, dass sie warten, damit ich mich noch verabschieden kann. Damit ich dir berichten kann, was man für dich entschieden hat. Ich wollte es dir persönlich sagen, das kannst du sicher verstehen?«

Er genoss es. Sosehr Leo diesen Mann auch verabscheute, wäre es dumm gewesen zu riskieren, dass er jetzt wütend wurde, wo sie schon so viel durchgestanden hatten. Kaum hörbar murmelte er: »Ich danke dir.«

»Du bist versetzt worden. Bei den ganzen unbeantworteten Fragen, die auf dir lasten, wäre es unmöglich gewesen, dich im MGB zu behalten. Du gehst zur Miliz. Nicht als Syschtschik, als Kriminalbeamter, sondern im niedrigsten Dienstgrad, als Uschastkow-je. Du wirst der sein, der die Untersuchungszellen saubermacht. Der die Berichte abtippt. Der macht, was man ihm sagt. Wenn du überleben willst, solltest du dich schnell daran gewöhnen, Befehle zu empfangen.«

Leo konnte Wassilis Enttäuschung verstehen. Eine Arbeitsstelle im Exil, irgendwo in einer örtlichen Polizeidienststelle - das war eine leichte Strafe. Bedachte man die Schwere der Anschuldigungen, hätten ihnen auch 25 Jahre in den Goldminen von Kolyma bevorstehen können, wo die Temperaturen bei 50 Grad unter null lagen, die Hände der Gefangenen von Erfrierungen entstellt waren und die durchschnittliche Überlebensdauer drei Monate betrug. Sie waren nicht nur mit dem Leben, sondern auch mit ihrer Freiheit davongekommen.

Leo konnte sich nicht vorstellen, dass Generalmajor Kuzmin das aus Sentimentalität getan hatte. Vielmehr war es so, dass er sich mit der Verurteilung eines Schützlings selbst blamiert hätte. In Zeiten politischer Instabilität war es viel besser, viel schlauer, ihn einfach unter dem Vorwand einer Versetzung wegzuschicken. Kuzmin wollte nicht riskieren, dass man sein Urteilsvermögen unter die Lupe nahm. Denn wenn Leo ein Spion war, warum hatte Kuzmin ihn dann bei Beförderungen immer bevorzugt? Nein, solche Fragen waren unangenehm. Es war leichter und sicherer, ihn einfach unter den Teppich zu kehren. Leo war klar, dass jedes Zeichen von Erleichterung Wassili weiter aufbringen würde, und er tat sein Bestes, so niedergeschlagen wie möglich dreinzuschauen.

»Ich werde meine Pflicht tun, wo immer man mich hinschickt.«

Wassili trat einen Schritt vor und drückte Leo die Fahrkarten und die Papiere in die Hand. Leo nahm die Dokumente an sich und wandte sich zum Zug.

In dem Moment, als Raisa den Wagen bestieg, rief Wassili ihr hinterher: »Es muss schwer für Sie gewesen sein zu erfahren, dass Ihr Mann Sie beschattet hat. Und nicht nur einmal. Das wird er Ihnen doch erzählt haben? Er hat Sie zweimal bespitzelt. Beim ersten Mal ging es gar nicht um Staatsangelegenheiten. Da dachte er nicht, Sie seien eine Spionin. Er dachte, Sie seien ein Flittchen. Das müssen Sie ihm verzeihen. Jeder hat schon mal seine Zweifel. Und Sie sind schön, obwohl ich persönlich nicht der Meinung bin, dass Sie es wert sind, dass man alles für Sie aufgibt. Ich vermute, wenn Ihr Mann erst einmal kapiert hat, in was für ein Scheißloch wir ihn da geschickt haben, dann wird er anfangen, Sie zu hassen. Wenn Sie mich fragen, ich hätte meine Wohnung behalten und Sie als Verräterin erschießen lassen. Ich kann nur vermuten, dass Sie echt gut im Bett sind.«