Выбрать главу

***

Raisa staunte über die Obsession dieses Kerls gegenüber ihrem Mann, aber sie sagte nichts. Jede Gegenrede konnte sie das Leben kosten. Ohne sich darum zu kümmern, dass einer ihrer Schnürsenkel aufgegangen war, nahm Raisa ihren Koffer und öffnete die Wagentür.

Leo folgte ihr und vermied es, sich umzudrehen. Wenn er jetzt Wassilis höhnisches Grinsen sah, war es gut möglich, dass er sich nicht mehr beherrschen konnte.

Als der Zug aus dem Bahnhof rollte, starrte Raisa aus dem Fenster. Es gab keine Sitzplätze mehr, und sie mussten stehen. Eine Zeit lang schwiegen sie beide und sahen zu, wie die Stadt vorbeizog. Schließlich sagte Leo: »Es tut mir leid.«

»Ich bin sicher, er hat gelogen. Er hätte alles gesagt, nur um dir wehzutun.«

»Er hat die Wahrheit gesagt. Ich habe dich bespitzeln lassen. Und es hatte nichts mit der Arbeit zu tun. Ich dachte ...«

»Dass ich was mit einem anderen hatte?«

»Es gab eine Zeit, da hast du nicht mehr mit mir gesprochen. Mich nicht mehr angerührt. Nicht mit mir geschlafen. Wir waren wie Fremde. Und ich verstand nicht, warum.«

»Man kann nicht einen MGB-Offizier heiraten und glauben, man würde nicht beschattet. Aber sag mir, Leo, wie hätte ich dir denn untreu sein können? Mal ganz praktisch gedacht. Ich hätte doch mein Leben riskiert. Wir hätten nicht gestritten. Du hättest mich einfach verhaftet.«

»Du hast geglaubt, dass ich so was machen würde?«

»Kannst du dich noch an meine Freundin Soja erinnern? Ich glaube, du hast sie mal kennengelernt.«

»Vielleicht ...«

»Ja genau, du kannst dich nie an die Namen von Leuten erinnern, nicht wahr? Ich frage mich, warum. Kannst du nachts besser schlafen, wenn du alles in deinem Schädel ausradierst?« Raisa sprach schnell, gefasst und mit einer Eindringlichkeit, die Leo an ihr nicht kannte. Sie fuhr fort: »Doch, doch, du hast Soja kennengelernt. Du hast es dir nur nicht gemerkt, aber sie war ja auch, was die Partei betraf, nicht besonders wichtig. Man hat ihr zwanzig Jahre aufgebrummt. Sie haben sie verhaftet, als sie aus einer Kirche kam, und ihr anti-stalinistische Gebete vorgeworfen. Gebete, Leo! Sie haben sie wegen der Gedanken in ihrem Kopf verurteilt.«

»Warum hast du mir das nicht gesagt? Ich hätte vielleicht helfen können.«

Raisa schüttelte den Kopf. Leo fragte: »Glaubst du etwa, ich habe sie denunziert?«

»Wüsstest du das überhaupt noch? Du kannst dich doch noch nicht mal daran erinnern, wer sie ist.«

Leo war konsterniert. So hatten sie beide noch nie miteinander gesprochen. Es war immer nur um häusliche Dinge gegangen. Höfliche Konversation, nie hatten sie sich angeschrien, nie gestritten.

»Selbst wenn du sie nicht denunziert hast, Leo, wie hättest du ihr denn helfen wollen? Wenn die Männer, die sie verhaftet haben, Männer wie du waren? Entschiedene, hingebungsvolle Staatsdiener? In jener Nacht bist du nicht nach Hause gekommen. Und mir wurde klar, dass du wahrscheinlich gerade die beste Freundin, die Eltern oder Kinder von jemand anderem festnahmst. Sag mir, wie viele Leute hast du verhaftet? Weißt du das überhaupt? Sag eine Zahl. 50, 200,1000?«

»Ich habe mich immerhin dagegen gewehrt, dich denen auszuliefern.«

»Es ging doch gar nicht um mich. Um dich ging es. Weil du immer Fremde verhaftet hast, konntest du dir einreden, dass sie schon schuldig sein würden. Konntest dir weismachen, dass das, was du machtest, notwendig war. Aber das hat denen nicht gereicht. Du solltest ihnen beweisen, dass du alles tust, was sie von dir verlangen, selbst wenn du in deinem Herzen wusstest, dass es falsch war. Selbst wenn du wusstest, dass es sinnlos war. Sie wollten, dass du deinen blinden Gehorsam beweist. Ehefrauen eignen sich für so eine Prüfung offenbar besonders gut.«

»Vielleicht hast du ja recht, aber davon sind wir jetzt frei. Ist dir eigentlich klar, was für ein Glück wir hatten, eine zweite Chance zu bekommen? Ich möchte, dass wir ein neues Leben anfangen, als Familie.«

»So einfach ist das nicht, Leo.« Raisa schwieg einen Augenblick und musterte ihren Mann, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »An dem Abend, als wir bei deinen Eltern gegessen haben, habe ich euch durch die Wohnungstür sprechen gehört. Ich war draußen auf dem Etagenkorridor. Ich habe eure Diskussion mit angehört, ob du mich als Spionin denunzieren solltest. Ich wusste nicht, was ich tun soll. Ich wollte nicht sterben. Also bin ich wieder hinunter auf die Straße und eine Weile spazieren gegangen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ich habe mich gefragt: Wird er es machen? Wird er mich im Stich lassen? Dein Vater hatte gute Argumente.«

»Mein Vater hatte Angst.«

»Drei Leben gegen eins. Gegen Zahlen kann man schlecht argumentieren. Aber wie sieht drei gegen zwei Leben aus?«

»Du bist gar nicht schwanger?«

»Wärst du für mich eingetreten, wenn ich es nicht wäre?«

»Und du hast bis jetzt gewartet, bevor du mir das sagst?«

So also sah ihre Ehe aus. Das war sie wirklich. Ihm schwindelte. Der Zug, in dem er hier stand, die Leute neben ihm, die Koffer, die Stadt da draußen - das kam ihm alles plötzlich so unwirklich vor. Nichts davon war verlässlich, nicht einmal die Dinge, die er sehen und anfassen und fühlen konnte. Alles, woran er geglaubt hatte, war eine Lüge. »Raisa, hast du mich eigentlich je geliebt?«

Einen Moment herrschte Schweigen. Sie standen da und wurden vom Zug durchgerüttelt, und die Frage hing zwischen ihnen wie ein schlechter Geruch. Anstatt sie zu beantworten, bückte sich Raisa schließlich und band sich den Schuh zu.

Wualsk

15. März

Im Schneidersitz saß Warlam Babinitsch in einer Ecke des überfüllten Schlafsaals auf dem dreckigen Betonboden und verbarg mit seinem Körper die Gegenstände, die er vor sich ausgebreitet hatte, vor ungebetenen Blicken. Er wollte nicht, dass die anderen Jungen sich einmischten. Denn das taten sie, wenn etwas ihr Interesse geweckt hatte. Vorsichtig blickte er sich um. Die ungefähr 30 Jungen im Saal achteten überhaupt nicht auf ihn. Die meisten lagen eng beieinander in den acht vollgepissten Betten, die sie sich teilen mussten. Warlam sah, dass sich zwei gegenseitig die angeschwollenen Wanzenbisse am Rücken kratzten. Überzeugt, dass man ihn in Ruhe lassen würde, wandte er sich wieder den vor ihm ausgebreiteten Sachen zu. Sachen, die er im Lauf der Jahre gesammelt hatte und die ihm alle teuer waren, einschließlich seines neuesten Schatzes, den er erst heute Morgen gestohlen hatte: ein vier Monate altes Baby.

Irgendwie war Warlam ja klar, dass es falsch gewesen war, das Baby zu stehlen. Wenn sie ihn erwischten, dann steckte er in Schwierigkeiten, noch größeren Schwierigkeiten als je zuvor. Außerdem war ihm klar, dass das Baby nicht glücklich war. Es schrie. Über den Krach machte er sich keine besonderen Gedanken, ein schreiendes Kind mehr würde hier niemandem auffallen. Und eigentlich ging es ihm ja auch weniger um das Baby als um die Decke, in die es gehüllt war. Voller Stolz über seine Neuerwerbung legte er das Baby in die Mitte seiner Sammlung: eine gelbe Dose, ein altes gelbes Hemd, ein gelb angestrichener Ziegelstein, das abgerissene Stück eines Plakats mit gelbem Hintergrund, ein gelber Bleistift und ein Buch mit einem weichen gelben Papierumschlag. Im Sommer fügte er seiner Sammlung immer gelbe Blumen hinzu, die er im Wald pflückte. Aber sie hielten nicht lange, und nichts machte ihn trauriger, als wenn das Gelb langsam schwächer wurde und die Blütenblätter ganz welk und braun wurden. Und er fragte sich: Wo geht das Gelb hin?