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Er hatte keine Ahnung. Aber er hoffte, dass er eines Tages dort hingelangen konnte, vielleicht, wenn er starb. Die Farbe Gelb war ihm wichtiger als alles und jedes auf der Welt. Gelb war der Grund, warum er hier gelandet war, im Internat von Wualsk, einem staatlichen Heim für geistig behinderte Kinder.

Als kleiner Junge war er der Sonne hinterhergejagt und hatte gedacht, wenn er nur schnell genug liefe, dann könne er sie sich vom Himmel schnappen und mit heimnehmen. Fast fünf Stunden war er gelaufen, bis man ihn endlich eingefangen und nach Hause gebracht hatte, brüllend vor Wut, weil man seine Jagd unterbrochen hatte. Anfangs hatten seine Eltern ihn verprügelt, weil sie hofften, ihm damit seine Macken austreiben zu können. Aber schließlich hatten sie eingesehen, dass ihre Methode nicht funktionierte, und ihn dem Staat überlassen, der mehr oder weniger dieselbe Therapie angewandt hatte. Die ersten zwei Jahre im Internat hatte man ihn an einen Bettrahmen gekettet, so wie man Hofhunde an Bäume kettete. Aber er war ein kräftiges Kind mit breiten Schultern und trotziger Entschlossenheit. Nach sieben Monaten hatte er es geschafft, den Bettrahmen aufzubiegen, die Kette herauszuziehen und Reißaus zu nehmen. Man hatte ihn am Stadtrand aufgegriffen, wo er dem gelben Waggon eines fahrenden Zuges hinterherhetzte. Schließlich war er in die Anstalt zurückgebracht worden, vollkommen erschöpft und halb verdurstet. Diesmal hatte man ihn in den Schrank gesperrt. Aber das war alles schon lange her. Jetzt vertrauten ihm die Pfleger. Er war schon siebzehn und klug genug, um zu wissen, dass man nie und nimmer weit genug laufen oder hoch genug klettern konnte, um die Sonne vom Himmel zu pflücken. Jetzt konzentrierte er sich darauf, Gelbes zu finden, an das er besser herankam. So wie dieses Baby, das er durch ein offenes Fenster geklaut hatte. Wenn er nicht so in Eile gewesen wäre, hätte er vielleicht versucht, das Baby aus der Decke zu wickeln und dazulassen. Aber dann hatte er Panik gekriegt, dass man ihn schnappen würde, und einfach beides mitgenommen. Und als er jetzt auf das schreiende Baby hinabschaute, stellte er zu seiner großen Befriedigung fest, dass die Decke die Babyhaut ein ganz kleines bisschen gelb machte. Gut, dass er alles beides mitgenommen hatte.

***

Draußen fuhren zwei Wagen vor, und sechs bewaffnete Angehörige der Miliz von Wualsk stiegen aus, angeführt von General Nesterow, einem Mann mittleren Alters mit dem breiten, stämmigen Körperbau eines Kolchosenarbeiters. Er machte seiner Mannschaft Zeichen, das Gebäude zu umstellen, während er selbst und Leutnant Sorkin, sein Stellvertreter, sich dem Eingang näherten. Normalerweise waren sie unbewaffnet, aber heute hatte Nesterow seine Männer angewiesen, ihre Pistolen zu tragen. Und im Bedarfsfall scharf zu schießen.

Die Pförtnerloge stand offen. Ein Radio spielte leise Musik, auf dem Tisch lag ein unbeendetes Kartenspiel, und der Gestank von Alkohol hing in der Luft. Von den Pflegern ließ sich keiner blicken. Nesterow und der Leutnant gingen weiter und kamen in den Flur. Der Alkoholgeruch ging über in den Gestank von Kot und Schwefel. Schwefel wurde benutzt, um die Wanzen zu vertreiben. Der Kotgestank bedurfte keiner weiteren Erklärung, die Wände und der Boden strotzten vor Fäkalien. Die Schlafsäle, an denen sie vorbeikamen, waren vollgestopft mit Kindern, um die 40 pro Raum, die nichts am Leib hatten außer einem dreckigen Hemdchen oder einer dreckigen Unterhose, aber offenbar niemals beides. Sie lagen teilnahmslos in ihren Betten, drei oder vier übereinander auf einer dünnen, verdreckten Matratze. Die meisten starrten nur reglos die Decke an. Bei manchen fragte Neste-row sich, ob sie überhaupt noch lebten. Schwer zu sagen. Die Kinder, die auf den Beinen waren, kamen angelaufen und versuchten nach den Pistolen zu greifen, begrabschten ihre Uniformen, buhlten um die Aufmerksamkeit der Erwachsenen. Bald waren die beiden von Händen umzingelt, die an ihnen hochkrabbelten. Nes-terow hatte sich zwar innerlich auf schreckliche Bedingungen eingestellt, aber er konnte kaum fassen, dass es so schlimm war. Er würde die Sache beim Anstaltsdirektor zur Sprache bringen. Aber das war nicht die passende Gelegenheit.

Nachdem sie das Erdgeschoss durchsucht hatten, kämpften sie sich nach oben vor. Sorkin versuchte die Rasselbande daran zu hindern, dass sie ihnen folgte, machte ein strenges Gesicht und gestikulierte herum, aber das brachte sie nur zum Lachen, als sei es ein Spiel. Wenn er die Kinder sanft zurückschob, kamen sie sofort wieder angelaufen und wollten, dass er sie noch mal zurückschob. Ungeduldig raunzte Nesterow: »Jetzt lassen Sie sie doch in Ruhe.« Sie mussten einfach hinnehmen, dass der Tross ihnen folgte.

Die Kinder in den oberen Räumen waren älter. Nesterow vermutete, dass die Schlafsäle vage nach Altersgruppen aufgeteilt waren. Ihr Verdächtiger war siebzehn, das war die Altersgrenze für diese Institution. Danach wurden die Insassen zu den mörderischsten Arbeiten expediert, Arbeiten, die sonst kein Mensch machen wollte. Arbeiten, bei denen die durchschnittliche Lebenserwartung 30 Jahre betrug. Nesterow und Sorkin erreichten das Ende des Flurs. Jetzt war nur noch ein Schlafsaal übrig.

Warlam saß mit dem Rücken zur Tür und war völlig darin versunken, die Kinderdecke zu streicheln und sich zu fragen, warum das Baby nicht mehr schrie. Er stupste es mit einem schmutzigen Finger an. Plötzlich erscholl eine Stimme im Raum, und er richtete sich kerzengerade auf.

»Warlam! Steh auf und dreh dich um. Schön langsam.«

Warlam hielt den Atem an und schloss die Augen, so als wenn dadurch die Stimme wieder verschwinden würde. Es klappte nicht.

»Ich sag’s nicht noch einmal. Steh auf und dreh dich um.«

Nesterow setzte sich in Bewegung und marschierte auf Warlam zu. Er konnte nicht sehen, was der Junge versteckte. Er konnte kein Baby schreien hören. Alle anderen Jungen im Schlafsaal hatten sich aufgesetzt und glotzten fasziniert. Ohne Vorwarnung erwachte Warlam zum Leben, klaubte etwas auf und wirbelte herum. Er hielt das Baby im Arm. Es fing an zu schreien. Ein Schauer der Erleichterung durchlief Nesterow. Wenigstens lebte das Kind noch. Warlam hielt es fest gegen seine Brust gedrückt, die Arme schlangen sich um den empfindlichen Hals.

Nesterow blickte sich prüfend um. Sein Stellvertreter war an der Tür stehen geblieben, umgeben von den neugierigen Kindern. Er zielte auf Warlams Kopf und spannte den Hahn. Schussbereit wartete er auf den Befehl zum Töten. Er hatte freie Schussbahn, aber er war bestenfalls ein mittelmäßiger Schütze. Beim Anblick seiner Waffe fingen einige Kinder an zu schreien, andere lachten und schlugen auf die Matratzen ein. Die Situation geriet langsam außer Kontrolle. Warlam wurde zunehmend panisch. Nesterow steckte seine Pistole ins Halfter, hob in dem Bemühen, Warlam zu beruhigen, die Hände und rief über das Getöse hinweg: »Gib mir das Kind.«

»Ich bin dermaßen in Schwierigkeiten.«

»Bist du gar nicht. Ich sehe ja, dass dem Baby nichts fehlt. Das hast du gut gemacht. Du hast dich um das Kleine gekümmert. Ich bin hier, um dir zu gratulieren.«

»Ich hab’s gut gemacht?«

»Hast du.«

»Kann ich es behalten?«

»Ich muss nachsehen, ob dem Baby auch wirklich nichts fehlt, nur um sicherzugehen. Danach können wir über alles reden. Kann ich mir das Kind mal anschauen?«

Warlam ahnte, dass sie böse auf ihn waren und ihm das Baby wegnehmen würden und ihn in einen gelblosen Raum sperren würden. Er presste das Baby fester an sich, ganz fest, noch fester, bis die Decke sich vor seinen Mund drückte. Er trat zurück bis ans Fenster und sah draußen die geparkten Miliz-Autos und bewaffnete Männer, die das Gebäude umzingelten.