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»Ich bin dermaßen in Schwierigkeiten.«

Vorsichtig schob Nesterow sich vor. Mit Gewalt würde er das Baby nicht aus Warlams Griff befreien können. Bei einem Kampf konnte es zu Tode gequetscht werden. Er warf dem Leutnant einen raschen Blick zu, und der gab ihm nickend zu verstehen, dass er immer noch schussbereit war. Nesterow schüttelte den Kopf. Das Baby war zu dicht an Warlams Gesicht. Das Risiko eines Unfalls war zu groß. Sie mussten es anders versuchen.

»Warlam, niemand wird dich schlagen oder dir wehtun. Gib mir das Kind, und dann können wir über alles reden. Niemand wird böse mit dir sein. Du hast mein Wort. Ich verspreche es.« Nesterow riskierte noch einen Schritt und nahm damit seinem Leutnant das Schussfeld. Er blickte flüchtig auf die Ansammlung von gelbem Krimskrams auf dem Boden. Er kannte Warlam schon von einem früheren Vorfall, wo ein gelbes Kleid von einer Wäscheleine gestohlen worden war. Es war Nesterow nicht entgangen, dass das Baby in eine gelbe Decke gewickelt war.

»Wenn du mir das Kind gibst, frage ich die Mutter, ob du die gelbe Decke behalten darfst. Ich bin sicher, sie sagt ja. Alles, was sie will, ist das Baby.«

Das war ein faires Angebot, fand Warlam, und er beruhigte sich. Er streckte die Arme aus und hielt Nesterow das Baby hin. Der sprang vor und riss es ihm aus den Händen. Er schaute nach, ob es auch wirklich unverletzt war, und übergab es dann an seinen Stellvertreter. »Bring es ins Krankenhaus.«

Der Leutnant eilte hinaus.

Als sei nichts passiert, setzte Warlam sich mit dem Rücken zur Tür auf den Boden und verteilte die Teile seiner Sammlung neu, um die Lücke zu füllen, die das fehlende Baby hinterlassen hatte. Die anderen Kinder im Schlafsaal waren wieder ruhig. Nesterow hockte sich neben ihn.

Warlam fragte: »Wann kann ich die Decke haben?«

»Erst musst du mit mir kommen.«

Warlam sortierte weiter seine Sammlung. Nesterows Blick fiel auf das gelbe Buch. Es war ein Militärhandbuch, also ein Geheimdokument. »Wo hast du das denn her?«

»Gefunden.«

»Ich schaue es mir mal an. Regst du dich auch nicht auf, wenn ich es mir mal anschaue?«

»Sind deine Finger sauber?«

Nesterow bemerkte, dass Warlams eigene Hände schmutzig waren. »Meine Finger sind sauber.«

Nesterow nahm sich das Buch und blätterte willkürlich darin herum. In der Mitte war irgendetwas zwischen die Seiten gepresst. Er drehte das Buch um und schüttelte es aus. Eine dicke blonde Haarlocke fiel zu Boden. Er hob sie auf und rieb sie zwischen seinen Fingern.

Warlam wurde rot. »Ich bin dermaßen in Schwierigkeiten.«

800 Kilometer östlich von Moskau

16. März

Die Frage, ob sie ihn liebe, hatte Raisa nicht beantwortet. Aber sie hatte auch gerade erst zugegeben, dass sie ihn mit der Schwangerschaft angelogen hatte. Wenn sie jetzt gesagt hätte: Ja, ich liebe dich, ich habe dich immer geliebt, hätte Leo ihr nicht geglaubt. Sie hatte weiß Gott keine Lust, ihm jetzt tief in die Augen zu schauen und Süßholz zu raspeln. Was sollte die Frage überhaupt? Es kam einem beinahe so vor, als habe er eine Art Erscheinung gehabt, eine Offenbarung, dass ihre Ehe sich nicht auf Liebe und Zuneigung gründete. Wenn sie wahrheitsgemäß geantwortet hätte: Nein, ich habe dich nie geliebt, dann wäre er auf einmal das Opfer gewesen, mit dem stillschweigenden Vorwurf, dass sie sich die Ehe mit ihm erschwindelt hatte. Plötzlich sah sie aus wie eine Hochstaplerin, die mit seinem weichen Herzen gespielt hatte. Plötzlich machte er auf romantisch. Vielleicht war es der Schock über den Verlust seiner Arbeit. Aber seit wann war Liebe Teil ihrer Abmachung? Danach hatte er noch nie gefragt. Und ihm selbst war es auch nie über die Lippen gekommen: Ich liebe dich.

Das hatte sie auch gar nicht verlangt. Ja, er hatte sie gebeten, ihn zu heiraten. Und sie hatte eingewilligt. Er hatte eine Ehe gewollt, eine Frau, sie, und er hatte bekommen, was er gewollt hatte. Jetzt sollte das auf einmal nicht mehr genug sein? Jetzt, wo er seine Autorität verloren hatte und die Macht, jeden nach Belieben zu verhaften, ersoff er förmlich in Sentimentalität. Und warum suchte er die Schuld dafür, dass diese Illusion ehelicher Eintracht plötzlich in sich zusammenfiel, eigentlich bei ihr und ihrer pragmatischen Vorgaukelei und nicht bei sich und seinem Misstrauen?

Konnte sie denn nicht ebenso verlangen, dass er sie von seiner Liebe überzeugte? Immerhin hatte er ungerechtfertigterweise angenommen, sie sei ihm untreu gewesen, hatte gar eine regelrechte Überwachung veranlasst, eine Sache, die auch leicht mit ihrer Verhaftung hätte enden können. Er hatte doch das Vertrauen zwischen ihnen gebrochen, lange bevor sie dazu gezwungen gewesen war. Dabei war ihr Antrieb das nackte Überleben gewesen, seiner nur krankhafte männliche Wahnvorstellungen.

Von dem Tag an, als sie ihre Namen als Mann und Frau ins Register eingetragen hatten, sogar noch davor, nämlich von dem Tag an, wo sie miteinander ausgegangen waren, war ihr klar gewesen, dass er sie töten lassen konnte, wenn sie ihn verstimmte. Ihr Leben war von einer ganz banalen Regel bestimmt worden: Sie musste dafür sorgen, dass er zufrieden war. Als Soja verhaftet worden war, hatten sein bloßer Anblick, seine Uniform und sein Geschwafel über den Staat sie so wütend gemacht, dass sie es nicht über sich bringen konnte, mehr als ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Letzten Endes aber war es auf eine ganz nüchterne Frage hinausgelaufen: Wollte sie überleben? Raisa hatte schon einmal überlebt, und die Tatsache, dass sie eine Überlebende war, dass sie als Einzige von ihrer Familie übrig war, hatte sie geprägt. Ihre Entrüstung über Sojas Verhaftung war Luxus, damit erreichte sie gar nichts. Also war sie in sein Bett gestiegen, hatte neben ihm geschlafen, mit ihm geschlafen. Sie hatte ihm das Abendessen gekocht und die Geräusche gehasst, die er beim Essen machte. Sie hatte seine Klamotten gewaschen und seinen Geruch verabscheut.

In den letzten paar Wochen hatte sie untätig zu Hause herumgesessen und ganz genau gewusst, dass er gerade abwog, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. War es klug gewesen, ihr Leben zu schonen? War sie das Risiko wert gewesen? War sie hübsch genug, nett genug, gut genug? Wenn nicht jede Geste, jeder Blick von ihr ihm gefiel, war sie in Todesgefahr. Nur gut, dass das jetzt vorbei war. Sie hatte es so satt, ohnmächtig und von seinem guten Willen abhängig zu sein. Und doch schien er jetzt dem Eindruck zu erliegen, sie stehe in seiner Schuld. Dabei hatte er nur das ausgesagt, was ohnehin jeder wusste: Sie war keine internationale Spionin, sondern eine Oberschullehrerin. Und als Gegenleistung wollte er nun eine Liebeserklärung. Es war beschämend. Er war doch gar nicht mehr in der Position, etwas zu verlangen. Er hatte ebenso wenig Macht über sie wie sie über ihn. Sie saßen beide in der Tinte. Ihr gesamter Besitz war zusammengeschrumpft auf einen Koffer pro Nase, sie waren beide verbannt in irgendeine Stadt weit ab vom Schuss. Sie waren sich jetzt so ebenbürtig wie noch nie zuvor. Wenn er ein Liebeslied hören wollte, dann musste er die erste Strophe schon selbst singen.

Leo saß da und brütete über Raisas Worten. Es schien, als habe sie sich das Recht zugesprochen, über ihn zu urteilen und ihn zu verachten, während sie selbst ihre Hände in Unschuld wusch. Aber als sie ihn geheiratet hatte, hatte sie gewusst, womit er sein Geld verdiente, hatte die Vergünstigungen seiner Position genossen, hatte sich die ausgesuchten Köstlichkeiten schmecken lassen, die er mitbringen konnte, hatte ihre Kleider im gut sortierten Speztorg gekauft. Wenn seine Arbeit sie so angewidert hatte, warum hatte sie sich dann nicht gegen seine Avancen verwahrt? Jeder wusste doch, dass man Kompromisse eingehen musste, wenn man überleben wollte. Er hatte vielleicht widerwärtige Dinge getan, moralisch verwerfliche Dinge. Aber für die meisten Leute war ein reines Gewissen ein unerschwinglicher Luxus, und Raisa konnte sich nun wirklich nicht darauf berufen. Hatte sie ihren Unterricht so gehalten, dass er ihren ehrlichen Überzeugungen entsprach? Offensichtlich nicht, wenn man sich jetzt ihre Entrüstung über den staatlichen Sicherheitsapparat anhörte. Aber in der Schule hatte sie ihn doch ganz bestimmt gutgeheißen, hatte ihren Schülern erklärt, wie ihr Staat funktionierte, hatte ihn gelobt und sie indoktriniert, an ihn zu glauben, hatte sie sogar dazu ermuntert, andere zu denunzieren. Denn wenn nicht, dann wäre sie höchstwahrscheinlich selbst von einem ihrer Schüler denunziert worden. Ihre Aufgabe hatte nicht nur darin bestanden, sie auf Parteilinie zu bringen, sondern auch darin, ihren kritischen Verstand zu neutralisieren. Und genau dieselbe Aufgabe würde sie auch in der neuen Stadt haben. So wie Leo es sah, waren er und seine Frau Rädchen im selben Getriebe.