In Mutawa hatte der Zug eine Stunde Aufenthalt. Raisa durchbrach die Schweigsamkeit, die schon den ganzen Tag zwischen ihnen geherrscht hatte. »Wir sollten etwas essen.«
Genau genommen schlug sie damit vor, sich auch weiterhin an das pragmatische Arrangement zu halten, das bislang das Fundament ihrer Ehe gewesen waren. Die Herausforderungen, die auf sie zukamen, überstehen zu wollen, das war es, was sie zusammenschweißte, nicht Liebe. Sie stiegen aus dem Eisenbahnwagen. Auf dem Bahnsteig lief eine Frau mit einem Weidenkorb auf und ab. Sie kauften ihr hartgekochte Eier, ein Papiertütchen Salz und ein paar Stücke zähes Roggenbrot ab. Dann saßen sie nebeneinander auf einer Bank, pellten ihre Eier, fingen die Schalen in ihrem Schoß auf und sprachen kein Wort miteinander.
***
Als der Zug die Berge erklomm, verlor er an Geschwindigkeit. Sie fuhren durch düstere Kiefernwälder. Am Horizont sah man über die Wipfel der Bäume hinweg die Gipfel der Berge aufragen wie schiefe Zähne aus einem Unterkiefer.
Die Strecke führte jetzt durch eine gerodete Ebene, und plötzlich breitete sich vor ihnen, inmitten der Wildnis, eine riesige Fabrikanlage aus, mit hohen Schornsteinen und miteinander verbundenen Gebäuden, die aussahen wie Lagerhallen. Beinahe sah es so aus, als habe ein Gott sich auf den Ural gesetzt, die Bäume vor ihm mit einem Faustschlag weggefegt und dann befohlen, die frisch geschaffene Freifläche mit Schornsteinen und Stahlpressen zu füllen. Es war das Erste, was sie von ihrer neuen Heimat zu sehen bekamen.
Leos Kenntnisse über die Stadt stammten aus der Propaganda und dem, was bei ihm auf dem Schreibtisch gelandet war. Einst hatte es hier wenig mehr gegeben als Sägewerke und eine Ansammlung von Blockhütten für jene, die in den Sägewerken arbeiteten. Dann war Stalins Auge auf die bescheidene Ansiedlung mit ihren 20 000 Einwohnern gefallen. Nach näherer Untersuchung ihrer natürlichen Ressourcen und ihrer Infrastruktur hatte er befunden, dass die Stadt nicht produktiv genug sei. Ganz in der Nähe floss die Ufa vorbei, im nur 150 Kilometer östlich gelegenen Swerdlowsk gab es Stahlwerke und Hochöfen, in den Bergen Eisenerzbergwerke, und zudem hatte die Stadt den Vorteil der Transsibirischen Eisenbahn. Riesige Lokomotiven fuhren jeden Tag hindurch, und alles, was die Züge aufluden, waren Holzbretter. Stalin hatte entschieden, dass dies der ideale Ort für die Montage eines Automobils war, des GAZ-20, eines Wagens, der es mit der Konkurrenz aus dem Westen aufnehmen und höchsten Anforderungen genügen sollte. Das Nachfolgemodell, Wolga GAZ-21, wurde gerade entwickelt und sollte der Gipfel sowjetischer Ingenieurskunst werden, auch bei eisigen Temperaturen laufen, hoch genug über der Straße liegen und eine beneidenswerte Federung, einen kugelsicheren Motor und einen Rostschutz besitzen, von dem man in den Vereinigten Staaten von Amerika nur träumen konnte. Leo hatte keine Ahnung, ob das alles stimmte. Was er wusste, war, dass sich nur ein Bruchteil der sowjetischen Bürger den Wagen leisten konnte, und sicherlich nicht jene Männer und Frauen, die an den Fließbändern standen.
Der Bau der Fabrik hatte ein paar Jahre nach dem Krieg begonnen, und achtzehn Monate später stand inmitten von Kiefernwäldern die Fabrikationsstraße des Automobils der Zukunft - des Wolga. Leo konnte sich nicht mehr an die Zahl der Gefangenen erinnern, die offiziell beim Bau der Fabrik gestorben waren. Aber solche Zahlen waren sowieso nicht zuverlässig. Er selbst hatte erst mit der Fabrik zu tun bekommen, als sie schon fertiggestellt war. Tausende »freier« Arbeiter aus Städten im ganzen Land waren auf ihre politische Verlässlichkeit hin geprüft und dann per Zwangsdekret umgesiedelt worden, um den nun entstandenen Mangel an Arbeitskräften auszugleichen. In nur fünf Jahren verfünffachte sich die Bevölkerung. Leo hatte die Überprüfungen einiger Moskauer Arbeiter übernommen, die man umgesiedelt hatte. Wenn sie die Nachforschungen überstanden, wurden sie binnen einer Woche mit Sack und Pack umgesiedelt. Wenn nicht, wurden sie verhaftet. Leo war einer der Torwächter dieser Stadt gewesen. Deshalb hatte Wassili diesen Ort ausgesucht. Die Ironie der Geschichte hatte ihn bestimmt amüsiert.
Raisa verpasste diesen ersten Eindruck ihres neuen Zuhauses. Sie war in ihren Mantel eingemummelt und schlief, der ans Fenster gelehnte Kopf rollte mit den Bewegungen des Zuges sanft hin und her. Von hier sah es aus, als habe sich die eigentliche Stadt seitwärts an ein riesiges Montagewerk gekrallt wie eine Zecke in den Hals eines Hundes. In allererster Linie war dies hier ein industrieller Produktionsstandort und erst mit gehörigem Abstand ein Ort zum Leben.
In fahlem Orange beleuchteten die Lichter der Wohnsilos den grauen Himmel. Leo stupste Raisa an. Sie erwachte, sah erst Leo an und blickte dann aus dem Fenster.
»Wir sind da.«
Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Sie nahmen ihre Koffer und traten auf den Bahnsteig. Es war ein paar Grad kälter als in Moskau. Wie zwei evakuierte Kinder, die zum ersten Mal ein fremdes Land betreten, standen sie da und sahen sich mit großen Augen in der unvertrauten Umgebung um. Man hatte ihnen keinerlei Anweisungen gegeben. Sie kannten niemanden. Sie hatten noch nicht einmal eine Telefonnummer, die sie hätten anrufen können. Niemand schien sie zu erwarten.
Das Bahnhofsgebäude war leer bis auf einen einzelnen Mann, der am Fahrkartenschalter saß. Er war noch jung, kaum über zwanzig. Beim Betreten des Bahnhofsgebäudes hatte er sie aufmerksam beobachtet.
Raisa ging zu ihm hin. »Guten Abend. Wir müssen zum Hauptquartier der Miliz.«
»Sind Sie aus Moskau?«
»Genau.«
Der Mann öffnete die Tür seines Schalterhäuschens und trat auf den Querbahnsteig hinaus. Dann deutete er mit dem Finger durch die Glastüren zur Straße hinaus. »Die da warten auf Sie.«
ioo Schritt vom Bahnhof entfernt stand ein Miliz-Fahrzeug. Auf dem Weg hinaus kamen Raisa und Leo an einem schneebedeckten Stalin-Relief vorbei, das man in eine Platte gemeißelt hatte und das aussah wie eine Versteinerung. Der Wagen war ein GAZ-20, der bestimmt hier in dieser Stadt gebaut worden war. Als sie näher kamen, entdeckten sie auf dem Fahrer- und Beifahrersitz zwei Männer.
Der Wagenschlag öffnete sich und einer der beiden stieg aus, ein breitschultriger Mann mittleren Alters. »Leo Demidow?«
»Ja.«
»Ich bin General Nesterow, der Chef der hiesigen Miliz.«
Leo überlegte, warum der Mann sich die Mühe gemacht hatte, ihn persönlich abzuholen. Mit Sicherheit hatte Wassili Anweisung gegeben, ihm das Leben so schwer wie möglich zu machen. Aber selbst wenn Wassili nichts gesagt hatte, allein die Ankunft eines ehemaligen MGB-Agenten aus Moskau würde die Miliz misstrauisch machen. Man würde nicht glauben, dass er nur hergekommen war, um als untere Charge anzufangen. Höchstwahrscheinlich vermuteten sie hinter dem Ganzen anderweitige Absichten und verdächtigten Leo, nach Moskau Bericht zu erstatten, aus welchem Grund auch immer. Je mehr Wassili versucht hatte, sie vom Gegenteil zu überzeugen, desto misstrauischer waren sie wahrscheinlich geworden. Warum sollte ein Agent hunderte Kilometer fahren, nur um in einer unbedeutenden Milizeinheit zu arbeiten? Da stimmte doch was nicht. In dieser klassenlosen Gesellschaft war die Miliz so ziemlich das Letzte vom Letzten.