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Jedem Schulkind wurde beigebracht, dass Mord, Diebstahl und Vergewaltigung Symptome einer kapitalistischen Gesellschaft waren, und eine entsprechend geringe Rolle spielte die Miliz. Alle Bürger waren gleich, da gab es keinen Grund für Diebstahl und Gewalt. In einem kommunistischen Staat brauchte man eigentlich gar keine Polizei. Deshalb war die Miliz auch nichts weiter als eine unbedeutende Unterabteilung des Innenministeriums: schlecht bezahlt und schlecht angesehen. Die Truppe rekrutierte sich vornehmlich aus jungen Burschen, die die Schule abgebrochen hatten, Landarbeitern, die man aus Kolchosen geworfen hatte, entlassenen Soldaten und Männern, deren Wohlwollen man sich mit einer halben Flasche Wodka kaufen konnte. Offiziell lag die Kriminalitätsrate der UdSSR bei nahezu null Prozent. Die Zeitungen schrieben oft darüber, welche Unsummen in den Vereinigten Staaten von Amerika für die Verbrechensbekämpfung verschwendet wurden, wo man glitzernde Polizeiautos und an jeder Straßenecke Polizisten in feschen, sauberen Uniformen brauchte, ohne die die Gesellschaft zusammenbrechen würde. Der Westen beschäftige viele seiner talentiertesten Männer und Frauen damit, Verbrechen zu bekämpfen, statt dass sie ihre Zeit sinnvoll nutzten und etwas aufbauten. Hier bei ihnen wurde keine Arbeitskraft vergeudet. Alles, was man brauchte, war ein bunt zusammengewürfelter Haufen kräftiger, aber ansonsten unbrauchbarer Männer, die nichts anderes konnten, als Schlägereien unter Betrunkenen zu beenden. So weit die Theorie. Leo hatte keinen Schimmer, wie hoch die Verbrechensrate tatsächlich war. Er legte auch keinen gesteigerten Wert darauf, es herauszufinden, weil diejenigen, die die Quote kannten, vermutlich regelmäßig liquidiert wurden. Die Produktionszahlen der Fabriken standen in der >Prawda< auf der Titelseite, im Mittelteil und auch noch ganz hinten. Nur gute Nachrichten waren es wert, gedruckt zu werden, hohe Geburtenraten, Gebirgsstrecken der Eisenbahn oder neue Kanäle.

Wenn man all dies in Betracht zog, war Leos Ankunft hier bemerkenswert ungewöhnlich. Eine Stelle beim MGB verschaffte einem mehr Blat, mehr Respekt, Einfluss und materielle Vergünstigungen als fast jede andere Arbeit. Freiwillig verließ man so einen Posten nicht. Und wenn er in Ungnade gefallen war, warum hatte man ihn dann nicht einfach verhaftet? Obwohl der MGB ihn fallengelassen hatte, warf Leo immer noch seinen Schatten, und er begriff, dass das möglicherweise ein wertvoller Vorteil war.

Nesterow trug ihre Koffer so mühelos zum Wagen, als seien sie leer. Er lud sie in den Kofferraum und hielt ihnen dann die Hintertür auf. Im Wagen nahm Leo seinen neuen Vorgesetzten in Augenschein, der sich gerade auf den Beifahrersitz klemmte. Der Mann war einfach zu groß, selbst für so ein stattliches Auto. Die Knie reichten ihm fast bis unters Kinn. Auf dem Fahrersitz neben ihm saß ein junger Kerl. Nesterow machte sich nicht die Mühe, ihn vorzustellen. Ähnlich wie beim MGB hatte jedes Fahrzeug einen eigenen Fahrer, der dafür verantwortlich war. Die Beamten bekamen keinen eigenen Wagen und saßen auch nicht selbst am Steuer. Der Fahrer legte den Gang ein und fuhr auf eine leere Straße hinaus. Kein anderer Wagen war in Sicht.

Nesterow ließ sich Zeit. Wahrscheinlich wollte er nicht den Eindruck erwecken, seinen neuen Rekruten ausfragen zu wollen. Schließlich sah er Leo durch den Rückspiegel an und bemerkte: »Vor drei Tagen wurde uns mitgeteilt, dass Sie herkommen. Eine ungewöhnliche Versetzung.«

»Wir müssen hingehen, wo wir gebraucht werden.«

»Hierhin ist schon seit geraumer Zeit keiner mehr versetzt worden. Und ich wüsste nicht, dass ich einen zusätzlichen Mann angefordert hätte.«

»Die Produktionsleistung der Fabrik genießt offiziell hohe Priorität. Man kann gar nicht genug Leute haben, um die Sicherheit der Stadt zu gewährleisten.«

Raisa wandte sich zu ihrem Mann um. Vermutlich waren seine hintergründigen Antworten Absicht. Selbst jetzt, wo er degradiert und aus dem MGB geworfen worden war, machte er sich noch die Angst zunutze, die der Geheimdienst auslöste. In ihrer heiklen Situation war das vielleicht nicht einmal so dumm.

Nesterow fragte: »Klären Sie mich auf. Sollen Sie als Syscht-schik anfangen? Als Kommissar? Die Anweisungen aus Moskau haben uns etwas verwirrt. Da hieß es nämlich, Sie sollen als Uschastkowje anfangen. Für einen Mann mit Ihrem Status bedeutet das eine erhebliche Herabstufung in seinen Verantwortlichkeiten.«

»Mein Befehl besagt, dass ich Ihnen unterstellt bin. In welchen Dienstgrad Sie mich einstufen, liegt in Ihren Händen.«

Schweigen. Vermutlich passte es dem General nicht, dachte Raisa, dass man die Frage wieder an ihn zurückdelegierte. Hörbar übellaunig raunzte er: »Fürs Erste wohnen Sie in der Pension. Sobald eine freie Wohnung zur Verfügung steht, wird sie Ihnen zugewiesen. Ich sollte Sie aber vorwarnen, dass es eine lange Warteliste gibt. Und da kann ich auch nichts deichseln. Bei der Miliz zu sein bringt einem nicht gerade Vorteile.«

Der Wagen hielt vor einem Haus, das aussah wie ein Restaurant. Nesterow machte den Kofferraum auf, holte die Koffer heraus und stellte sie auf den Bürgersteig. Leo und Raisa blieben stehen und warteten auf Anweisungen.

An Leo gewandt sagte Nesterow: »Wenn Sie Ihre Koffer auf Ihr Zimmer gebracht haben, kommen Sie bitte wieder zum Wagen. Ihre Frau kann dableiben.«

Raisa unterdrückte den Ärger darüber, dass man über sie sprach, als sei sie Luft. Sie sah zu, wie Leo Nesterows Beispiel folgte und beide Koffer auf einmal nahm. Seine Protzerei erstaunte sie, aber sie würde ihn jetzt nicht in Verlegenheit bringen. Sollte er sich doch mit ihrem Koffer abschleppen, wenn er darauf bestand. Leo ging voraus, drückte die Tür auf und betrat das Restaurant.

Drinnen war es dunkel. Die Fensterläden waren zu und es stank nach kaltem Rauch. Auf den Tischen standen überall noch die schmutzigen Gläser vom Vorabend. Leo setzte die Koffer ab und klopfte auf eine der schmierigen Tischplatten.

In der Tür erschien die Silhouette eines Mannes. »Wir haben geschlossen.«

»Mein Name ist Leo Demidow. Das hier ist meine Frau Raisa. Wir sind gerade aus Moskau angekommen.«

»Danil Basarow.«

»General Nesterow hat mir gesagt, dass Sie uns unterbringen können.«

»Reden Sie von dem Zimmer im Obergeschoss?«

»Ich weiß nicht ... ja, ich glaube schon.«

Basarow kratzte sich die Speckrollen an seinem Bauch. »Dann zeige ich Ihnen mal Ihr Zimmer.«

Das Zimmer war klein. Man hatte zwei Einzelbetten zusammengeschoben, dazwischen war eine Besucherritze. Beide Matratzen hingen durch. Die Tapete warf Blasen wie die Haut eines Jünglings und war von einer klebrigen Fettschicht bedeckt. Wahrscheinlich Kochdünste, vermutete Leo, denn das Zimmer lag direkt über der Küche, man konnte sie durch die Ritzen in den Dielen sehen, und sie belüftete das Zimmer mit den Gerüchen von dem, was unten gerade gekocht wurde: gesottene Innereien, Knorpel und Schmalz.

Basarow war über Leos Erscheinen nicht gerade erbaut. Dieses Zimmer, diese Betten, waren von seinem »Personal« benutzt worden, womit er die Frauen meinte, die seine Gäste bearbeitet hatten. Dennoch konnte er die Bitte nicht abschlagen. Schließlich gehörte ihm das Haus nicht, und wenn der Laden laufen sollte, war er auf den guten Willen der Miliz angewiesen. Sie wussten, dass er Gewinn machte, und hatten auch nichts dagegen, solange sie ihren Anteil abkriegten. Nichts war deklariert, alles inoffiziell -ein geschlossener Kreislauf. Ehrlich gesagt machten diese neuen Gäste ihn ein bisschen nervös. Die waren vom MGB, hieß es. Das hielt ihn davon ab, so grob zu werden, wie es sonst seine Art war. Er wies den Flur hinunter zu einer halb offenstehenden Tür. »Da ist das Klo. Wir haben eins im Haus.«