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Raisa versuchte das Fenster zu öffnen, aber es war zugenagelt, als ob man jemanden daran hindern wollte hinauszuspringen. Sie starrte hinaus: nur Bruchbuden und schmutziger Schnee. Das war also ihr neues Zuhause.

Leo war plötzlich müde. Solange seine Erniedrigung nur eine Vorstellung gewesen war, hatte er sie ertragen, aber jetzt hatte sie konkrete Formen angenommen: dieses Zimmer. Er wollte nur noch schlafen, die Augen zumachen und die Welt aussperren. Aber er musste ja wieder nach draußen. Also stellte er seinen Koffer aufs Bett und vermied es, Raisa anzuschauen, nicht aus Wut, sondern aus Scham. Ohne ein Wort verließ er das Zimmer.

Sie fuhren mit ihm zum Fernsprechamt und brachten ihn hinein. In einer Schlange warteten ein paar hundert Menschen auf die ihnen zugeteilte Sprechzeit, jeweils nur ein paar Minuten. Da man die meisten dieser Leute gezwungen hatte, ihre Familien zurückzulassen und in dieser Stadt zu arbeiten, konnte Leo nachvollziehen, wie wertvoll ihnen diese wenigen Minuten waren. Nesterow allerdings hatte es nicht nötig, sich anzustellen, er marschierte direkt auf eine der Zellen zu.

Nachdem er die Verbindung hergestellt und einige Zeit mit jemandem gesprochen hatte, ohne dass Leo etwas hätte verstehen können, reichte Nesterow ihm den Hörer. Leo hielt ihn sich ans Ohr und wartete.

»Wie ist die Unterbringung?« Es war Wassili. Er fuhr fort: »Du würdest am liebsten auflegen, stimmt’s? Aber das kannst du nicht. Noch nicht mal das kannst du.«

»Was willst du?«

»Ich will in Verbindung bleiben, damit du mir von deinem Leben da drüben berichten kannst und ich dir von meinem hier. Ehe ich es vergesse: Die Wohnung, die du deinen Eltern besorgt hattest, ist ihnen wieder weggenommen worden. Wir haben etwas für sie gefunden, was ihrem Status angemessener ist. Ist vielleicht ein bisschen kalt und beengt. Und bestimmt schmutzig. Sie wohnen jetzt mit einer siebenköpfigen Familie zusammen, glaube ich. Fünf kleine Kinder. Übrigens habe ich überhaupt nicht gewusst, dass dein Vater so schrecklich unter Rückenschmerzen leidet. Zu dumm, dass er jetzt ein Jahr vor der Rente wieder zurück ans Fließband musste. Ein Jahr kann einem schnell wie zehn vorkommen, wenn einem die Arbeit keinen Spaß macht. Aber das wirst du sicher bald selbst merken.«

»Meine Eltern sind gute Leute. Sie haben ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet. Sie haben niemandem etwas getan.«

»Aber ich lasse sie trotzdem bluten.«

»Was willst du von mir?«

»Ich will, dass du dich entschuldigst.«

»Wassili, es tut mir leid.«

»Du weißt ja noch nicht mal, wofür du dich entschuldigen sollst.«

»Ich habe dich schlecht behandelt. Und das tut mir leid.«

»Was tut dir leid? Ein bisschen genauer bitte. Deine Eltern sind schließlich auf dich angewiesen.«

»Ich hätte dich nicht schlagen sollen.«

»Du gibst dir nicht genügend Mühe. Versuch mich zu überzeugen.«

Leo war verzweifelt, seine Stimme zitterte. »Ich weiß nicht, was du noch von mir willst. Du hast alles. Ich habe nichts.«

»Ganz einfach. Ich will, dass du bettelst.«

»Ich bettele ja, Wassili, hör dir doch meine Stimme an. Ich bitte dich. Lass meine Eltern zufrieden. Bitte ...«

Wassili hatte eingehängt.

Wualsk

17. März

Nachdem er die ganze Nacht gelaufen war, mit Blasen an den Füßen und blutdurchtränkten Strümpfen, setzte sich Leo auf eine Parkbank, verbarg den Kopf in den Händen und weinte.

Er hatte weder geschlafen noch etwas gegessen. Als Raisa am vergangenen Abend mit ihm hatte reden wollen, hatte er sie nicht beachtet, und das Essen, das sie ihm aus dem Restaurant heraufgeholt hatte, hatte er nicht angerührt. Er hatte es in diesem winzigen, stinkenden Zimmer einfach nicht mehr ausgehalten, also war er runtergegangen, hatte sich mit den Ellenbogen seinen Weg durch die Menge gebahnt und war nach draußen verschwunden. Ohne Orientierung war er einfach losgelaufen, zu entmutigt und aufgebracht, um einfach nur ruhig und untätig dazusitzen, obwohl er begriff, dass genau das seine Zwickmühle war. Er konnte gar nichts machen.

Noch einmal widerfuhr ihm eine Ungerechtigkeit, aber diesmal war er gänzlich machtlos. Man würde seine Eltern nicht einfach in den Hinterkopf schießen, das wäre zu schnell gewesen, beinahe wie ein Gnadenakt. Nein, man würde sie nach und nach fertigmachen. Leo konnte sich gut vorstellen, was einem systematisch vorgehenden, sadistischen Kleingeist so alles einfiel. Erst einmal würde man seine Eltern in der Fabrik zurückstufen und ihnen die schwersten, schmutzigsten Arbeiten zuweisen. Arbeiten, mit denen sogar ein junger und starker Mensch zu kämpfen gehabt hätte. Man würde sie mit Geschichten über Leos bemitleidenswertes Schicksal, seine Schande und seine Erniedrigung quälen. Wahrscheinlich hatte man ihnen sogar erzählt, dass er in einem Gulag stecke, zu zwanzig Jahren Katorga verurteilt, Schwerstarbeit.

Was die Familie betraf, mit der seine Eltern nun ihre Wohnung teilen mussten, konnte man sicher sein, dass es äußerst widerwärtige Störenfriede waren. Den Kindern wurde Schokolade versprochen, wenn sie nur gehörig Lärm machten, und den Eltern eine eigene Wohnung, wenn sie Essen stahlen, Streit anfingen und den anderen nach Möglichkeit das Leben zur Hölle machten. Die Einzelheiten wollte Leo sich lieber gar nicht vorstellen. Wassili würde sie ihm schon mit Freuden berichten, in der sicheren Gewissheit, dass Leo nicht einhängen würde, weil er Angst hatte, dass es seine Eltern danach nur umso schlimmer träfe. Aus der Ferne würde Wassili ihn zerbrechen, systematisch den Hebel da ansetzen, wo er am verwundbarsten war - bei seiner Familie. Wehren konnte Leo sich nicht. Es würde sicher nicht allzu schwer sein, die Adresse seiner Eltern herauszubekommen, aber wenn seine Briefe nicht ohnehin abgefangen und verbrannt wurden, konnte er ihnen wenig mehr mitteilen, als dass er in Sicherheit war. Er hatte ihnen ein angenehmes Leben verschafft, nur um jetzt zu erleben, dass es ihnen wieder entrissen wurde. Und das zu einem Zeitpunkt, wo sie mit den Veränderungen am wenigsten fertig werden würden.

Raisa saß unten an einem Tisch. Sie hatte die ganze Nacht auf ihn gewartet. Genau wie Wassili vorhergesagt hatte, wusste sie, dass Leo inzwischen seine Entscheidung bedauerte, sie nicht denunziert zu haben. Der Preis dafür war zu hoch. Aber was hätte sie denn machen sollen? So tun, als ob er alles für die perfekte Liebe geopfert hatte? So etwas ließ sich doch nicht einfach herbeizaubern. Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie hätte gar nicht gewusst, wie. Was sagte man da, wie verhielt man sich? Vielleicht hätte sie es ihm ein bisschen schonender beibringen können. Tatsächlich hatte sie seine Degradierung heimlich genossen. Nicht aus Boshaftigkeit oder Rachsucht, sondern weil sie wollte, dass er es begriff: So habe ich mich jeden Tag gefühlt. So fühlten sich die meisten Leute jeden Tag: machtlos und verängstigt. Sie wollte, dass er das nachempfand, dass er es am eigenen Leib zu spüren bekam.

Als Leo das Restaurant betrat, blickte Raisa erschöpft und mit schweren Lidern hoch. Sie stand auf, ging zu ihm und sah seine blutunterlaufenen Augen. Sie hatte ihn noch nie weinen sehen. Er wandte sich ab und goss sich aus der nächstbesten Flasche etwas zu trinken ein. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. Dann passierte alles im Bruchteil einer Sekunde. Leo wirbelte herum, packte sie am Hals und drückte zu. »Du hast mir das eingebrockt!«