Nesterow gab Leo eine Akte. Der glotzte sie einige Sekunden lang an und versuchte herauszubekommen, was man von ihm erwartete. Warum gab man ausgerechnet ihm das? Worum auch immer es gehen mochte, ihm war es schnuppe. Er seufzte und zwang sich dazu, die Akte zu studieren. Als er sie aufschlug, sah er mehrere Schwarzweißfotos von einem jungen Mädchen. Sie lag auf dem Rücken und war von schwarzem Schnee umgeben. Schwarzem Schnee? Ach so, schwarz, weil er blutdurchtränkt war. Es sah so aus, als ob das Mädchen schreien würde, aber als Leo näher hinsah, erkannte er, dass sie etwas im Mund hatte.
Nesterow klärte ihn auf. »Man hat ihr den Mund mit Erde vollgestopft. Damit sie nicht um Hilfe schreien konnte.«
Leos Finger krampften sich um die Fotografie. All seine Gedanken über Raisa, über seine Eltern, sich selbst - alles wie weggeblasen. Leo konzentrierte sich nur noch auf den Mund des Mädchens. Er stand weit offen und war mit Erde vollgestopft. Leo sah sich das nächste Foto an. Das Mädchen war nackt. An den unversehrten Stellen war ihre Haut so weiß wie Schnee. Aber ihr Bauch war übel zugerichtet, aufgeschlitzt. Leo blätterte zum nächsten Foto, blätterte weiter und weiter. Aber was er sah, war kein Mädchen, sondern stattdessen Fjodors kleiner Junge. Ein Junge, den man nackt ausgezogen und dem man den Bauch aufgeschlitzt hatte. Ein Junge, dessen Mund man mit Erde vollgestopft hatte. Ein Junge, den man ermordet hatte. Leo legte die Fotos auf den Tisch. Er sagte nichts, sondern starrte nur die Urkunden an der Wand an.
Am selben Tag
Die beiden Fälle konnten doch unmöglich etwas miteinander zu tun haben. Der Tod von Fjodors kleinem Sohn und der Mord an diesem jungen Mädchen - das war doch undenkbar. Die Verbrechen waren Hunderte von Kilometern voneinander entfernt verübt worden. Das war nur ein blöder, ein diabolischer Zufall, sonst nichts. Trotzdem hatte Leo einen Fehler begangen, als er Fjodors Anschuldigungen zurückgewiesen hatte. Hier gab es ein Kind, das genauso ermordet worden war, wie Fjodor es beschrieben hatte. Er würde nie erfahren, was Fjodors Sohn Arkadi wirklich zugestoßen war, weil er sich nicht die Mühe gemacht hatte, die Leiche des Jungen selbst zu inspizieren. Vielleicht war sein Tod ja ein Unfall gewesen. Oder vielleicht hatte man auch den Mantel des Schweigens über die Sache gebreitet. Wenn Letzteres zutraf, dann war Leo benutzt worden, um etwas zu vertuschen. Und er hatte es natürlich in blindem Gehorsam getan, hatte eine trauernde Familie verhöhnt, eingeschüchtert und bedroht.
Was diesen Mord betraf, so machte General Nesterow keine Ausflüchte, sondern nannte die Sache freimütig beim Namen: Mord! Es hatte nicht den Anschein, als wolle er daraus etwas anderes konstruieren, es war ein brutales und schreckliches Verbrechen, Punkt. Seine Offenheit sorgte Leo. Wie konnte Nesterow so unbekümmert sein? Schließlich wurde erwartet, dass die Jahresstatistik seiner Dienststelle dem vorgegebenen Muster entsprach: sinkende Kriminalitätsrate, wachsende gesellschaftliche Harmonie. Obwohl die Stadt einen atemberaubenden Bevölkerungszuwachs erfahren hatte, den Zustrom von beinahe 80 000 entwurzelten Arbeitern, sollten die Verbrechen abnehmen, denn die Theorie diktierte, dass es mehr Arbeit, mehr Gerechtigkeit und weniger Ausbeutung gab als früher.
Der Name des Opfers war Larissa Petrowa. Sie war vier Tage zuvor im Wald gefunden worden, nicht weit vom Bahnhof. Darüber, wie man die Leiche gefunden hatte, gab es nur dürftige Angaben, und als Leo nachfragte, wollte Nesterow schnell über das Thema hinweggehen. Leo bekam lediglich heraus, dass die Leiche von einem Pärchen gefunden worden war, das zu viel getrunken hatte und im Wald Unzucht treiben wollte. Dabei waren die beiden über das junge Mädchen gestolpert, das schon seit mehreren Monaten im Schnee gelegen hatte. Die Eiseskälte hatte den Körper perfekt konserviert. Sie war ein vierzehnjähriges Schulkind und der Miliz bekannt. Man sagte ihr ein liederliches Sexualleben nach, nicht nur mit Jungen ihres Alters, sondern auch mit älteren Männern. Für eine kleine Flasche Wodka war sie zu haben. Am Morgen ihres Verschwindens hatte Larissa sich mit ihrer Mutter gestritten. Ihre Abwesenheit hatte man nicht weiter beachtet, schließlich hatte sie ja damit gedroht abzuhauen, und ihren Worten offenbar Taten folgen lassen. Niemand hatte nach ihr gesucht. Nesterow zufolge waren die Eltern angesehene Mitglieder der Gesellschaft. Der Vater arbeitete als Buchhalter in den Automobil-Werken. Sie schämten sich ihrer Tochter und wollten mit den Ermittlungen nichts zu tun haben. Der Fall sollte diskret behandelt, nicht unbedingt verschleiert, aber auch nicht publik gemacht werden. Die Eltern waren einverstanden gewesen, kein Begräbnis für ihr Kind zu veranstalten und weiterhin so zu tun, als sei sie nur vermisst. Es war ja nicht nötig, dass die ganze Stadt davon erfuhr. Abgesehen von der Miliz wusste nur eine Handvoll Leute, dass es einen Mord gegeben hatte. Und diesen Leuten, einschließlich dem Paar, das die Leiche entdeckt hatte, waren für den Fall, dass sie quatschten, die Konsequenzen verdeutlicht worden. Die Sache würde rasch abgeschlossen sein, denn man hatte ja bereits einen Verdächtigen in Gewahrsam.
Leo war sich darüber im Klaren, dass die Miliz nur dann ermitteln konnte, wenn offiziell ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war. Und ein Ermittlungsverfahren wurde nur dann eingeleitet, wenn feststand, dass man den Fall auch erfolgreich zum Abschluss bringen konnte. Einen Verdächtigen etwa nicht verurteilen zu können, war nicht hinnehmbar und die Konsequenzen waren hart. Wenn ein Fall vor Gericht kam, konnte das nur eins bedeuten: Der Verdächtige war schuldig. War ein Fall schwierig, komplex oder unklar, wurde das Verfahren erst gar nicht eröffnet.
Wenn Nesterow und seine Untergebenen derart gelassen blieben, konnte dies nur bedeuten, dass sie überzeugt waren, den Täter schon zu haben. Ihre Arbeit war getan. Die folgende Verstandesarbeit, die Untersuchungen, die Beweisvorlage und schließlich die eigentliche strafrechtliche Verfolgung, war Sache der staatlichen Ermittler und der Staatsanwaltschaft mit ihrer Phalanx von Sledowatjel, ihren Anklägern. Leo sollte gar nicht an dem Fall mitarbeiten. Er sollte nur gezeigt bekommen, wie der Hase hier lief, und ihre Effizienz bestaunen.
Die Zelle war klein, besaß aber keine der ausgeklügelten Umrüstungen wie die in der Lubjanka. Die Wände und der Boden waren aus Beton. Man hatte den Verdächtigen auf einen Stuhl gesetzt und ihm die Hände mit Handschellen am Rücken gefesselt. Er war jung, vermutlich nicht älter als sechzehn oder siebzehn. Sein Körperbau entsprach schon dem eines Erwachsenen, sein Gesicht aber war noch kindlich. Sein Blick schweifte ziellos um-her. Angst schien er keine zu haben. Auf seine stumpfsinnige Art machte er einen gefassten Eindruck und zeigte auch keinerlei Spuren körperlicher Gewaltanwendung. Natürlich gab es Methoden, einem Häftling Verletzungen zuzufügen, die man nicht sah, aber Leo spürte instinktiv, dass man dem Jungen nicht wehgetan hatte.
Nesterow zeigte auf den Verdächtigen. »Das ist Warlam Babinitsch.«
Als der Junge seinen Namen hörte, glotzte er Nesterow an, so wie Hunde ihr Herrchen ansehen.
Nesterow fuhr fort: »Wir haben bei ihm eine Locke von Larissas Haar gefunden. Er war schon dadurch aufgefallen, dass er ihr nachgestellt hat. Lungerte vor ihrem Haus herum, machte ihr auf offener Straße unsittliche Anträge. Larissas Mutter erinnert sich daran, ihn mehrmals gesehen zu haben. Und auch, dass ihre Tochter sich über ihn beschwert hat. Er hat öfter versucht, ihre Haare zu betatschen.«