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Nesterow wandte sich an den Verdächtigen und sprach ihn ruhig an. »Warlam, erzähl uns mal, was passiert ist. Erzähl uns, wie du an eine Haarsträhne von ihr gekommen bist.«

»Hab sie geschnitten. Ich war schuld.«

»Erzähl dem Beamten, warum du sie getötet hast.«

»Mir gefielen ihre Haare. Ich wollte sie haben. Jetzt hab ich ein gelbes Buch, ein gelbes Hemd, eine gelbe Dose und noch gelbe Haare. Deshalb hab ich sie ihr geschnitten. Es tut mir leid. Das hätte ich nicht machen sollen. Wann kann ich die Decke haben?«

»Darüber reden wir später.«

Leo unterbrach ihn. »Was für eine Decke?«

»Vor zwei Tagen hat er ein Baby entführt. Es war in eine gelbe Decke gewickelt. Er ist besessen von der Farbe Gelb. Zum Glück ist das Baby unverletzt geblieben. Aber er hat kein Gefühl dafür, was richtig und was falsch ist. Er tut, was immer ihm gerade in den Sinn kommt, ohne sich über die Folgen Gedanken zu machen.«

Nesterow rückte ein wenig näher an den Verdächtigen heran. »Als ich Larissas Haare in deinem Buch gefunden habe, warum hast du da geglaubt, dass du in Schwierigkeiten bist? Erzähl diesem Mann mal, was du mir gesagt hast.«

»Sie hat mich nie gemocht. Hat mir immer gesagt, ich soll verschwinden, dabei wollte ich doch ihre Haare haben. Unbedingt wollte ich die. Aber als ich sie ihr dann geschnitten habe, hat sie keinen Ton gesagt.«

Nesterow starrte Leo an und überließ ihm das Verhör. »Haben Sie irgendwelche Fragen?«

Was erwartete der Mann? Leo dachte einen Moment nach, dann fragte er: »Warum hast du ihr Erde in den Mund gestopft?«

Warlam gab nicht sofort Antwort. Er schien durcheinander zu sein. »Ja, sie hatte da was im Mund. Jetzt fällt es mir wieder ein. Bitte nicht schlagen!«

Nesterow antwortete: »Keiner schlägt dich. Beantworte die Frage.«

»Ich weiß nicht mehr. Ich vergesse immer alles. Stimmt, sie hatte Erde im Mund.«

Leo setzte nach. »Erzähl uns, was passiert ist, als du sie getötet hast.«

»Ich habe sie geschnitten.«

»Hast du sie geschnitten oder ihre Haare?«

»Es tut mir leid, dass ich sie geschnitten hab.«

»Hör mir mal genau zu. Hast du in ihren Körper geschnitten oder in ihr Haar?«

»Ich hab sie gefunden und dann hab ich sie geschnitten. Ich hätte es jemandem sagen sollen, aber ich hab’s mit der Angst gekriegt. Ich wollte nicht in Schwierigkeiten kommen.«

Warlam fing an zu weinen. »Ich bin dermaßen in Schwierigkeiten. Es tut mir so leid. Ich wollte doch nur ihre Haare haben.«

Nesterow trat einen Schritt vor. »Das reicht fürs Erste.«

Die beruhigenden Worte sorgten dafür, dass Warlam aufhörte zu weinen. Er war wieder ruhig. Von seinem Gesicht hätte man unmöglich ablesen können, dass dieser junge Mann eines Mordes verdächtigt wurde.

Leo und Nesterow traten hinaus in den Flur. Nesterow verschluss die Zellentür. »Wir haben Beweise, dass er am Tatort war. Es gibt Fußabdrücke, die genau auf seine Schuhe passen. Verstehen Sie, er ist einer aus dem Internat. Ein Schwachsinniger.«

Jetzt war Leo klar, warum Nesterow so unerschrocken und ohne Umschweife von Mord sprach. Sein Verdächtiger war geistesgestört. Warlam stand außerhalb der Gesellschaft, außerhalb des Kommunismus und seiner Politik. Er war erklärbar. Seine Handlungen warfen kein schlechtes Licht auf die Partei und gefährdeten auch nicht die Binsenweisheit über die sinkende Kriminalität, weil der Verdächtige ja kein richtiger Sowjet war. Er war anormal.

Nesterow fügte hinzu: »Das sollte Sie nicht in dem Glauben wiegen, dass er nicht zu Gewalt imstande ist. Er hat zugegeben, dass er sie getötet hat. Und er hat ein Motiv, ein absurdes zwar, aber ein Motiv. Er wollte etwas haben, was er nicht bekommen konnte, ihre blonden Haare. Es ist bekannt, dass er kriminell handelt, wenn er nicht bekommt, was er will. Diebstahl, Kindesentführung, und jetzt also Mord. Es ist traurig. Man hätte ihn schon vor langer Zeit einsperren sollen. Jetzt ist er ein Fall für den Ankläger.«

Leo verstand. Die Ermittlungen waren abgeschlossen. Dieser junge Mann würde sterben.

Am selben Tag

Das Schlafzimmer war leer. Leo ging in die Knie und legte den Kopf auf die Dielen. Ihr Koffer war nicht mehr da. Hastig stand er auf und rannte die Treppe hinunter in die Küche des Restaurants. Basarow war dabei, fette Streifen von einer undefinierbaren, gelblichen Fleischkeule zu schneiden.

»Wo ist meine Frau?«

»Bezahlen Sie erst mal die Flasche, dann sage ich es Ihnen.« Er deutete auf eine leere Flasche, die mit dem billigen Wodka, den Leo in den frühen Morgenstunden gesoffen hatte, und fügte hinzu: »Ist mir gleich, ob Sie die ausgetrunken haben oder Ihre Frau.«

»Ich bitte Sie, sagen Sie mir, wo sie ist.«

»Erst bezahlen Sie mir die Flasche.«

Leo hatte kein Geld. Er trug immer noch seine Milizuniform. Er hatte alles in seinem Spind gelassen. »Ich bezahle sie später. Was auch immer Sie verlangen.«

»Klar, später. Später bezahlen Sie mir eine Million Rubel.«

Basarow säbelte weiter an seinem Fleisch herum. Es war offensichtlich, dass er nicht nachgeben würde.

Leo rannte wieder nach oben und durchwühlte seinen Koffer, zerrte alles heraus. Hinten im Buch der Propagandisten hatte er vier 25-Rubel-Scheine für Notfälle. Er sprang wieder auf, rannte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter ins Restaurant. Dann schob er dem Mann einen der Scheine in die Hand, erheblich mehr, als eine Flasche wert war. »Wo ist sie?«

»Sie ist vor ein paar Stunden weggegangen. Hatte ihren Koffer dabei.«

»Wo ist sie hin?«

»Weder hat sie mit mir gesprochen, noch ich mit ihr.«

»Wie lange ist das her? Wann genau war das?«

»Vor zwei oder drei Stunden vielleicht.«

Drei Stunden - das hieß, dass sie weg war. Nicht nur aus dem Restaurant, sondern möglicherweise auch schon aus der Stadt. Leo hatte keinen Schimmer, wo sie hinwollte oder in welcher Richtung sie unterwegs war.

Die üppige Entlohnung ließ Basarow seine Großzügigkeit entdecken, und er spendierte noch eine kleine Zusatzinformation.

»Ist unwahrscheinlich, dass sie den Nachmittagszug noch erwischt hat. Und soweit ich mich erinnere, fährt der nächste erst jetzt um diese Zeit.«

»Um wie viel Uhr?«

»Um halb acht.«

Leo blieben noch zehn Minuten. Ohne auf seine Müdigkeit zu achten, lief er so schnell er konnte. Aber die Verzweiflung schnürte ihm die Luft ab, er keuchte. Überdies hatte er nur eine vage Vorstellung davon, wo der Bahnhof lag. Blindlings lief er weiter und versuchte sich an den Weg zu erinnern, den der Wagen genommen hatte. Seine Uniform war bis obenhin vollgespritzt mit dem Schneematsch von der Straße, der billige Stoff wurde immer schwerer. Seine scheuernden Blasen waren wieder aufgegangen, die Zehen bluteten erneut. Das Blut lief ihm in die Schuhe, und bei jedem Schritt schoss ihm der Schmerz in die Beine.

Leo bog um eine Ecke in eine Sackgasse, eine Reihe Holzhäuser. Er hatte sich verlaufen. Es war zu spät. Seine Frau war weg, und er konnte nichts dagegen machen. Er beugte sich vor und versuchte, zu Atem zu kommen. Dann erkannte er die maroden Blockhäuser wieder, den Abwassergestank. Er musste ganz nah am Bahnhof sein.

Anstatt sich umzuwenden, lief er weiter in die Gasse hinein und durch die Hintertür eines der kleinen Häuser. Im nächsten Moment fand er sich unversehens inmitten einer auf dem Boden kauernden Familie wieder, die zu Abend aß. Zusammengedrängt hockten sie um einen Primuskocher und glotzten stumm zu ihm hoch, seine Uniform machte ihnen Angst. Wortlos stieg Leo über die Kinder hinweg und lief nach draußen. Jetzt war er auf der Hauptstraße, durch die waren sie bei ihrer Ankunft gekommen. Der Bahnhof war bereits in Sichtweite. Leo versuchte, noch schneller zu rennen, aber tatsächlich wurde er langsamer. Er konnte nicht mehr.