Er torkelte gegen die Bahnhofstür und stieß sie mit der Schulter auf. Die Uhr zeigte Viertel vor acht an. Eine Viertelstunde zu spät. Die Erkenntnis, dass sie weg war, wahrscheinlich für immer, traf Leo wie ein Keulenschlag. Er hatte sich an die sinnlose Hoffnung geklammert, dass sie aus irgendeinem Grund doch auf dem Bahnsteig sein würde, dass sie nicht in den Zug gestiegen war. Er trat einen Schritt vor, schaute nach rechts, schaute nach links, sah aber weder seine Frau noch den Zug. Er war am Ende. Die Arme auf die Knie gestemmt, beugte er sich vor, Schweiß rann ihm über das Gesicht. Aus dem Augenwinkel sah er auf einer Bank einen Mann sitzen. Warum war noch jemand auf dem Bahnsteig? Wartete der etwa auf einen Zug? Leo richtete sich wieder auf.
Raisa stand am anderen Ende des Bahnsteigs, in der Dunkelheit hatte er sie nicht gesehen. Es kostete ihn gewaltige Selbstbeherrschung, nicht einfach zu ihr hinzulaufen und sie bei den Händen zu nehmen. Leo holte Luft und versuchte sich zurechtzulegen, was er sagen sollte. Dann sah er an sich hinunter. Er sah unmöglich aus, verschwitzt und verdreckt. Und Raisa sah ihn noch nicht einmal an, sondern schaute über seine Schulter hinweg. Leo drehte sich um. Dicke Dampfwolken pufften über den Baumwipfeln in den Himmel. Der verspätete Zug traf ein.
Leo hatte sich vorgestellt, dass er sich seine Entschuldigung gründlich überlegen würde, dass er die richtigen Worte finden und eloquent sprechen würde. Aber dieser Plan war durchkreuzt. Jetzt hatte er nur noch Sekunden, um sie zu überzeugen. Er stammelte: »Es tut mir leid. Ich war nicht bei Sinnen. Ich habe dich gewürgt, aber da war ich außer mir. Das war nicht der Mensch, der ich sein möchte.«
Was für ein Schwachsinn! Das musste doch besser hinzukriegen sein. Ruhig und konzentriert, er hatte nur den einen Schuss frei. »Raisa, du willst mich verlassen. Und dazu hast du auch allen Grund. Ich könnte dir jetzt sagen, wie schwer du es haben wirst, so ganz auf dich allein gestellt. Dass sie dich vielleicht anhalten werden, verhören, verhaften. Dass du keine vernünftigen Papiere hast. Du wärst eine Landstreicherin. Aber das ist kein Grund, bei mir zu bleiben. Ich weiß, du willst es riskieren.«
»Papiere kann man fälschen, Leo. Mir wären falsche Papiere lieber als eine falsche Ehe.«
Dawar es. Ihre Ehe war eine einzige Augenwischerei. Die Worte, die Leo hatte sagen wollen, blieben ihm im Mund stecken. Der Zug bremste und kam neben ihnen zum Stehen. Raisas Gesicht blieb ungerührt. Leo machte ihr den Weg frei. Sie ging auf den Eisenbahnwagen zu.
Konnte er sie einfach so gehen lassen? Über den Lärm der quietschenden Bremsen hinweg brüllte er: »Der Grund, warum ich dich nicht denunziert habe, war nicht, weil ich geglaubt habe, du seist schwanger. Und es hatte auch weiß Gott nichts damit zu tun, dass ich ein guter Mensch bin. Ich habe es gemacht, weil meine Familie das Einzige in meinem Leben ist, wofür ich mich nicht schäme.«
Zu seiner Überraschung wandte Raisa sich um. »Wo kommt denn plötzlich über Nacht diese Einsicht her? Das ist doch billig. Nachdem sie dir deine Uniform ausgezogen und dich deiner Macht beraubt haben, musst du dich jetzt mit mir begnügen. Ist es nicht so? Etwas, was dir noch nie besonders wichtig war, wir nämlich, wird plötzlich wichtig, weil du sonst nichts mehr hast.«
Die Waggontüren gingen auf, und eine Handvoll Reisender stieg aus. Die Zeit wurde knapp. Raisa wandte sich zum Zug um und wog ihre Möglichkeiten ab. Sie waren erbärmlich. Weder hatte sie Freunde, zu denen sie sich flüchten konnte, noch eine treu sorgende Familie oder Geld, um sich selbst über Wasser zu halten. Nicht einmal eine Fahrkarte. Bei seiner Analyse hatte Leo schon recht gehabt. Wenn sie fortging, würden die Behörden sie möglicherweise aufgreifen. Allein der Gedanke raubte ihr die Kraft. Raisa sah ihren Ehemann an. Sie hatten beide nichts als einander, ob es ihnen nun gefiel oder nicht.
Raisa setzte den Koffer ab. Leo lächelte, er dachte wohl, hiermit seien sie wieder versöhnt. Wie konnte er? Wütend hob sie die Hand, und das Lächeln verschwand. »Ich habe dich geheiratet, weil ich Angst hatte. Angst, dass ich, wenn ich deinen Avancen nicht nachgebe, verhaftet werde. Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann, unter irgendeinem Vorwand. Ich war jung, Leo, und du hattest Macht. Das ist der Grund, warum ich dich geheiratet habe. Diese Geschichte, die du immer wieder erzählst, dass ich mich als Lena ausgegeben habe, die findest du auch noch lustig oder romantisch? Ich habe dir doch nur einen falschen Namen genannt, weil ich fürchtete, du könntest mich finden. Was du für Verführung gehalten hast, war für mich Überwachung. Unsere Beziehung war auf Angst gebaut. Vielleicht nicht aus deiner Sicht, du hattest ja keinen Grund, mich zu fürchten, welche Macht hatte ich denn schon? Du hast mich gebeten, dich zu heiraten, und ich habe eingewilligt, weil es das Vernünftigste war. Man fügt sich in die Dinge und arrangiert sich, damit man am Leben bleibt. Du hast mich nie geschlagen oder angebrüllt. Du warst nie betrunken. Eigentlich hatte ich noch Glück. Aber als du mich gewürgt hast, Leo, da hast du damit den einzigen Grund beseitigt, den ich noch hatte, bei dir zu bleiben.«
Der Zug fuhr ab. Leo sah ihm hinterher und versuchte zu verdauen, was sie ihm gerade gesagt hatte. Aber sie gönnte ihm keine Pause, sondern sprach weiter, so als hätte sie sich diese Worte schon lange in ihrem Kopf zurechtgelegt. Nun war der Damm gebrochen.
»Wenn man machtlos wird, wie du jetzt, dann hat man das Problem, dass die Leute einem plötzlich die Wahrheit sagen. Daran bist du nicht gewöhnt, du hast vorher ja in einer Welt gelebt, die dich schützte, durch die Furcht, die du verbreitet hast. Aber wenn du willst, dass wir beieinanderbleiben, dann hör bitte mit diesen sentimentalen Illusionen auf. Was uns zusammenhält, sind nur die Umstände. Ich habe dich, du hast mich. Sonst haben wir nicht besonders viel. Und sollten wir zusammenbleiben, dann werde ich dir von heute an die Wahrheit sagen und dir keine sanften Lügen mehr auftischen. Wir sind einander jetzt so ebenbürtig wie noch nie zuvor. Entweder akzeptierst du das, oder ich warte hier auf den nächsten Zug.«
Leo wusste nicht, was er antworten sollte. Darauf war er nicht gefasst gewesen, dass sie ihn so niedermachte, niederredete. Er hatte früher seine Position dazu ausgenutzt, um an eine bessere Wohnung und bessere Lebensmittel zu kommen. Dass er sie auch dazu ausgenutzt haben sollte, eine Frau zu kriegen, war ihm nie in den Sinn gekommen.
Ihre Stimme wurde ein wenig sanfter. »Es gibt so viele Dinge, vor denen man Angst haben muss. Es geht einfach nicht, dass du auch noch eines davon bist.«
»Das werde ich nie mehr sein.«
»Mir ist kalt, Leo. Seit drei Stunden stehe ich nun schon auf diesem Bahnsteig herum. Ich gehe jetzt zurück in unser Zimmer. Kommst du mit?«
Nein, er wollte nicht mit ihr zurückgehen, Seite an Seite, und dabei doch mit diesem Abgrund zwischen ihnen. »Ich bleibe noch ein bisschen. Wir sehen uns dann da.«
Er wusste nicht, wie lange er dort sitzen geblieben war, als er merkte, dass jemand neben ihm stand. Leo sah auf.
Es war der Mann vom Fahrkartenschalter, der mit dem jugendlichen Aussehen, dem sie bei ihrer Ankunft begegnet waren. »Heute gibt es keine Züge mehr.«
»Haben Sie eine Zigarette?«
»Ich rauche nicht. Aber ich kann Ihnen eine aus unserer Wohnung holen. Sie ist gleich oben.«
»Nein, das ist nicht nötig. Trotzdem vielen Dank.«