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»Ich heiße Alexander.«

»Leo. Macht es Ihnen was aus, wenn ich noch ein bisschen bleibe?«

»Überhaupt nicht. Ich besorge Ihnen die Zigarette.«

Bevor Leo antworten konnte, war der junge Mann schon davongeeilt.

Leo lehnte sich zurück und wartete. Ein Stück weiter weg machte er eine Hütte aus. Das war der Ort, wo man die Leiche des Mädchens gefunden hatte. Leo konnte den Waldrand erkennen, den Tatort. Der Schnee war von Kriminalbeamten, Fotographen und Staatsanwälten nieder getrampelt worden, sie alle hatten das tote Mädchen mit dem Mund voller Erde in Augenschein genommen.

Ruckartig richtete Leo sich auf. Ihm war ein Gedanke gekommen. Er lief los, kletterte vom Bahnsteig, überquerte die Gleise und nahm Kurs auf den Wald. Hinter ihm rief eine Stimme: »Was machen Sie denn?«

Leo drehte sich um und sah Alexander, der auf dem Bahnsteig stand und eine Zigarette in der Hand hielt. Er machte ihm Zeichen, ihm zu folgen.

Leo erreichte die Stelle, an der der Schnee niedergetrampelt war. In allen Richtungen verliefen einander durchkreuzende Fußstapfen. Leo ging in den Wald hinein, und nach einigen Minuten hatte er die Stelle erreicht, wo vermutlich die Leiche gelegen hatte. Er kauerte sich hin, Alexander schloss zu ihm auf. Leo blickte hoch. »Wissen Sie, was hier passiert ist?«

»Ich war derjenige, der Ilinaja auf den Bahnhof zurennen sah.

Sie war ziemlich übel zugerichtet und brachte eine ganze Weile nichts heraus. Ich habe die Miliz gerufen.«

»Ilinaja?«

»Die die Leiche gefunden hat! Ist praktisch drübergestolpert. Sie und der Mann, mit dem sie zusammen war.«

Das Paar aus dem Wald. Leo hatte doch geahnt, dass hier etwas nicht stimmte. »Warum war sie übel zugerichtet?«

Alexander druckste herum. »Sie ist eine Prostituierte. Der Mann, mit dem sie an dem Abend zusammen war, ist ein wichtiger Parteifunktionär. Fragen Sie mich bitte nicht weiter.«

Leo verstand. Dieser Parteibonze wollte nicht in irgendwelchen Polizeiberichten vorkommen. Aber konnte er möglicherweise auch ein Verdächtiger im Mordfall des jungen Mädchens sein? Um ihn zu ermuntern, nickte Leo dem jungen Mann zu. »Ich halte Sie da raus. Versprochen.«

Leo schob mit der Hand die dünne Schneedecke beiseite. »Der Mund des Mädchens war mit Erde vollgestopft. Lockerer Erde. Stellen Sie sich mal vor, ich kämpfe mit Ihnen, genau hier an diesem Ort, und ich taste um mich auf der Suche nach etwas, was ich Ihnen in den Mund stopfen kann, weil ich Angst habe, dass Sie schreien und jemand Sie hören kann.«

Mit den Fingern suchte Leo den Boden ab. Er war hart wie Stein. Er versuchte es an einer anderen Stelle, überall. Es gab keine lockere Erde. Alles war festgefroren.

18. März

Leo stand vor dem Krankenhaus Nr. 379 und las sich noch einmal den Autopsiebericht durch, dessen wichtigste Erkenntnisse er sich aus dem Original abgeschrieben hatte.

Zahlreiche Stichwunden.

Klinge mittlerer Größe.

Umfangreiche Verletzungen des Rumpfs und der inneren Organe.

Sexueller Missbrauch unmittelbar vor oder nach dem Tod.

Mund voller Erde, obwohl sie nicht erstickt ist. Nasenwege frei. Erde

diente anderem Zweck - sie zum Schweigen zu bringen?

Den letzten Punkt hatte Leo umkringelt. Da der Boden gefroren war, musste der Mörder die Erde schon mitgebracht haben. Er musste den Mord geplant haben. Die Tat war mit Vorsatz und vorbereitet ausgeführt worden. Aber warum brachte einer sich Erde mit? Das war eine ziemlich mühselige Methode, jemanden zum Schweigen zu bringen. Ein Lappen, ein Stück Tuch, selbst eine bloße Hand wären viel einfacher gewesen. Ohne Ergebnisse in der Tasche beschloss Leo, dass er Fjodors Bitte nachträglich doch noch befolgen würde. Er würde sich die Leiche selbst anschauen.

Als er nachgefragt hatte, wo die Leiche aufbewahrt wurde, hatte man ihn zum Krankenhaus Nr. 379 geschickt. Leo hatte erst gar nicht damit gerechnet, forensische Labore, Pathologen oder ein speziell eingerichtetes Leichenschauhaus vorzufinden. Er wusste, dass es für unnatürliche Todesfälle keinen eigenen Apparat gab. Wozu auch, wenn es gar keine unnatürlichen Todesfälle gab? So war die Miliz im Krankenhaus darauf angewiesen, um die freien Momente der Ärzte zu buhlen, um ihre Mittagspausen oder die zehn Minuten vor der nächsten Operation. Die Ärzte besaßen über ihr medizinisches Allgemeinwissen hinaus keine Fachausbildung und gaben lediglich eine fachkundige Meinung darüber ab, was dem Opfer zugestoßen sein mochte. Der Autopsiebericht, den Leo gelesen hatte, basierte auf Notizen, die irgendein Arzt zwischen Suppe und Kartoffeln hingekritzelt hatte. Abgetippt worden waren sie wiederum mehrere Tage später, und zwar von einer vollkommen anderen Person. Es bestand kaum ein Zweifel, dass dadurch viele Erkenntnisse verlorengegangen waren.

Nr. 379 war eines der berühmtesten Krankenhäuser des Landes und unter denjenigen, zu denen jedermann Zugang hatte, eines der besten weltweit, wie es hieß. Es lag an der Tschaklowa-Straße und erstreckte sich über mehrere Hektar einer parkähnlichen Anlage bis hin zum Wald. Leo war beeindruckt. Das hier war nicht einfach nur ein Propagandaobjekt. Viel Geld war in diese Anlage investiert worden, und er verstand nun, warum angeblich alle möglichen Würdenträger aus weiter Ferne angereist kamen, nur um sich in dieser pittoresken Umgebung zu erholen. Leo vermutete, dass die großzügige Finanzausstattung vor allem sicherstellen sollte, dass die Arbeitnehmerschaft der GAZ-Werke gesund und produktiv blieb.

An der Rezeption bat Leo darum, mit einem Arzt sprechen zu können, und erklärte, es handele sich um den Fall eines Mordopfers, eines jungen Mädchens, das gegenwärtig in ihrem Leichenschauhaus liege. Dem Mann am Empfang schien dieser Wunsch nicht zu behagen, denn er fragte, ob es dringend sei und ob Leo nicht wiederkommen könne, wenn sie weniger zu tun hätten. Leo begriff, dass er nicht in den Fall hineingezogen werden wollte. »Es ist dringend.«

Zögerlich entfernte sich der Mann.

Leo trommelte mit den Fingern auf den Schalter der Rezeption. Er fühlte sich unwohl und blickte sich verstohlen über die Schulter zum Eingang um. Sein Besuch war unbefugt und eigenmächtig. Was hoffte er hier überhaupt zu erreichen? Sein Auftrag war doch, die Schuld des Verdächtigen zu untermauern, und nicht, sie grundsätzlich in Frage zu stellen. Zwar hatte man ihn aus der angesehenen Welt der politischen Verbrechen in die dreckige Schattenwelt der normalen Verbrechen verbannt, doch so verschieden waren die Abläufe gar nicht. Er hatte den Tod von Fjodors kleinem Jungen nicht als Unfall abgetan, weil es dafür Beweise gab, sondern weil die Parteilinie dieses Dementi verlangte. Er hatte Leute verhaftet, nur weil man ihm Listen mit Namen gegeben hatte. Listen, die man hinter verschlossenen Türen aufgesetzt hatte. Das war seine Methode gewesen. Leo war nicht naiv genug zu glauben, dass er den Verlauf der Ermittlungen würde ändern können. Er hatte nichts zu sagen. Und selbst wenn er an oberster Stelle der Hierarchie gesessen hätte, hätte er den Lauf der Dinge nicht aufhalten können. Der Weg war festgelegt, der Verdächtige ausgesucht. Es war unausweichlich, dass man Babinitsch schuldigsprechen würde, und ebenso unausweichlich, dass er sterben würde. Abweichungen oder gar die Anerkenntnis der Fehlbarkeit waren im System nicht vorgesehen.

Und überhaupt, was hatte er eigentlich mit der Sache zu schaffen? Das hier war nicht seine Stadt, mit den Leuten hatte er nichts zu tun. Er hatte den Eltern des Kindes nicht geschworen, dass er den Mörder finden würde. Weder hatte er das Mädchen gekannt, noch hatte ihr Schicksal ihn berührt. Hinzu kam, dass der Verdächtige eine Bedrohung für die Allgemeinheit darstellte - immerhin hatte er ein Baby entführt. Das waren alles hervorragende Gründe, um einfach die Hände in den Schoß zu legen. Und noch ein anderer kam hinzu: Was kann ich allein schon ausrichten?