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Der Mann vom Empfang kam mit einem anderen Mann, Anfang vierzig, zurück, einem Doktor Tjapkin, der sich bereit erklärte, Leo ins Leichenschauhaus zu bringen, unter der Bedingung, dass es keinen Papierkram gab und sein Name in keinem Bericht auftauchte.

Auf dem Weg äußerte der Arzt seine Zweifel, dass das Mädchen überhaupt noch da war. »Wir behalten sie nicht lange hier, außer man bittet uns darum. Eigentlich hatten wir den Eindruck, die Miliz wisse schon alles, was sie wissen wollte.«

»Haben Sie die Autopsie durchgeführt?«

»Nein, aber ich habe von dem Mord gehört. Ich dachte, Sie hätten den Schuldigen längst gefasst.«

»Schon möglich.«

»Verzeihen Sie, dass ich Sie das frage, aber sind wir uns schon einmal irgendwo begegnet?«

»Ich bin erst kürzlich angekommen.«

»Woher stammen Sie?«

»Aus Moskau.«

»Sind Sie versetzt worden?«

»Ja.«

»Ich bin vor drei Jahren hergeschickt worden, auch aus Moskau. Sie sind doch bestimmt geknickt, jetzt hier zu sein.«

Leo schwieg.

»Sie brauchen gar nichts zu sagen. Ich war damals auch geknickt. Ich hatte einen Ruf, Bekannte, Familie. Ich war gut befreundet mit Professor Wowsi. Hierher versetzt zu werden war für mich eine Degradierung. Aber letzten Endes hat es sich als Segen erwiesen.«

Leo erinnerte sich an den Namen. Professor Wowsi war einer der vielen jüdischen Ärzte gewesen, die man interniert hatte. Seine Verhaftung und die seiner Kollegen hatte eine neue Stufe in der Judenverfolgung markiert, die Stalin in Gang gesetzt hatte. Es hatte genaue Pläne gegeben, Leo hatte sie gesehen. Der Entfernung wichtiger jüdischer Persönlichkeiten in einflussreichen Positionen hatte eine noch größer angelegte Säuberung folgen sollen, die jeden jüdischen Bürger getroffen hätte, ob er nun prominent war oder nicht. Nur Stalins Tod hatte diese Pläne durchkreuzt.

Ohne die Gedankengänge seines Gegenübers zu erahnen, fuhr Tjapkin ungeniert fort: »Anfangs befürchtete ich, sie hätten mich in irgendein Wald- und Wiesenkrankenhaus geschickt. Aber Nr. 379 ist der Stolz der ganzen Region. Es ist höchstens ein bisschen zu erfolgreich. Viele Sägewerksarbeiter verbringen lieber eine Nacht in unseren sauberen Betten, mit fließendem Wasser und Toiletten auf dem Gang, als bei sich zu Hause. Irgendwann sind wir dahintergekommen, dass keiner so krank war, wie er tat. Ein paar Leute aus dem Sägewerk sind sogar so weit gegangen, sich ein Stück vom Finger abzuschneiden, nur damit sie eine Woche hier drin sicher hatten. Die einzige Lösung war, Beamte des MGB die Stationen kontrollieren zu lassen. Es war nicht so, dass wir die Männer aus dem Sägewerk nicht verstanden hätten. Wir wissen ja alle, wie sie hausen müssen. Aber wenn die allgemeine Produktivität wegen Krankheit gesunken wäre, hätte man uns Nachlässigkeit vorgeworfen. Dass die Leute gesund bleiben, ist heutzutage eine Frage auf Leben und Tod, nicht nur für die Patienten, sondern auch für uns Ärzte.«

»Verstehe.«

»Waren Sie in Moskau auch bei der Miliz?«

Sollte Leo zugeben, dass er zum MGB gehört hatte, oder lügen und so tun, als sei er nur bei der Miliz gewesen. Er wollte nicht, dass der Doktor seine Gesprächigkeit verlor. »Ja.«

Die Leichenhalle war im Keller, tief unter der Erde, die den ganzen langen Winter über gefroren war. Entsprechend kalt war es in den Fluren. Tjapkin führte Leo in einen großen Raum mit gekacheltem Boden und niedriger Decke. Auf der einen Seite stand ein rechteckiger Bottich, der aussah wie ein kleines Schwimmbecken. Am jenseitigen Ende befand sich eine Stahltür, die zur eigentlichen Leichenhalle führte.

»Wenn die Verwandten nicht vorher irgendetwas aushandeln konnten, verbrennen wir die Leichen normalerweise innerhalb von zwölf Stunden. Viel Aufbewahrungsplatz brauchen wir eigentlich nicht. Warten Sie hier, ich bin gleich zurück.«

Der Arzt schloss die Stahltür auf und betrat das Leichenhaus. Während er wartete, näherte Leo sich dem Bottich und linste über den Rand. Der Kübel war mit einer dicken schwarzen Flüssigkeit angefüllt. Alles, was Leo sehen konnte, war sein eigenes Spiegelbild. Die ungetrübte Oberfläche sah auf den ersten Blick schwarz aus, doch an den Flecken, die sich an den Betonwänden abgesetzt hatten, erkannte er, dass es in Wahrheit ein dunkles Orange war. An der Seite lehnte ein Haken, eine Metallstange mit einer mit Widerhaken versehenen Zinke am Ende. Leo nahm ihn und stocherte vorsichtig in der Flüssigkeit herum. Wie Sirup teilte sich die Oberfläche und lief wieder zusammen, bis sie ganz glatt war. Leo tauchte den Haken tiefer hinein, und diesmal spürte er, dass sich da unten etwas bewegte, etwas Schweres. Er stocherte noch mehr. Eine nackte Leiche kam an die Oberfläche, drehte sich halb um die eigene Achse und versank wieder.

Tjapkin tauchte aus der Leichenhalle auf, er schob eine Bahre vor sich her. »Diese Leichen werden in Eis gepackt und zum Sezieren nach Swerdlowsk gebracht. Da gibt es eine medizinische Fakultät. Ich habe Ihr Mädchen gefunden.«

Larissa Petrowa lag auf dem Rücken. Ihre Haut war blass und mit spinnwebendünnen blauen Äderchen überzogen. Sie hatte blondes Haar. Am Pony war ein großes Büschel schief und krumm abgeschnitten worden, die Locke, die Warlam sich genommen hatte. Sie hatte keine Erde mehr im Mund, die hatte man entfernt, aber er war noch aufgesperrt wie zuvor. Ihre Zähne und Zunge waren verdreckt, befleckt von den braunen Resten der Erde, die man ihr in den Mund gestopft hatte.

»Sie hatte Erde im Mund.«

»Tatsächlich? Tut mir leid, aber es ist das erste Mal, dass ich ihre Leiche sehe.«

»Der Mund war vollgestopft mit Erde.«

»Vielleicht hat der Arzt sie herausgewaschen, um ihren Rachen untersuchen zu können.«

»Hat man sie nicht aufgehoben?«

»Das halte ich für unwahrscheinlich.«

Die Augen des Mädchens waren offen. Blaue Augen. Vielleicht hatte man ihre Mutter aus einer Stadt an der finnischen Grenze hierher versetzt, aus einer der baltischen Regionen. Leo erinnerte sich wieder an den Aberglauben, dass das Gesicht des Mörders sich im Auge des Opfers verewigt. Er beugte sich näher vor und studierte die blassblauen Augen. Plötzlich war es ihm peinlich, und er richtete sich auf. Tjapkin lächelte.

»Wir gucken alle, die Ärzte genauso wie die Polizisten. Auch wenn der Verstand uns sagt, dass wir da nichts finden werden, wollen wir doch alle sichergehen. Es würde Ihre Arbeit natürlich erheblich vereinfachen, wenn es stimmte.«

»Wenn es stimmte, würden die Mörder ihren Opfern einfach die Augen ausstechen.«

Leo hatte sich noch nie eine Leiche angesehen, jedenfalls nicht mit forensischem Interesse, und er wusste nicht, wie man da vorging. Die Verstümmelung schien ihm mit solcher Raserei durchgeführt worden zu sein, dass nur ein Wahnsinniger so etwas vollbracht haben konnte. Man hatte ihr den Körper aufgeschlitzt. Leo hatte genug gesehen. Warlam Babinitsch passte ins Bild. Die Erde musste er aus Gründen mitgebracht haben, die wohl nur er selbst verstand.

Leo wollte schon gehen, aber Tjapkin schien, nachdem er schon den ganzen Weg in den Keller hinabgestiegen war, nicht in Eile zu sein. Er beugte sich ein Stück weiter hinunter und musterte etwas, das eigentlich nur aussah wie eine zerhackte Masse aus Muskelfleisch und Gewebe. Mit der Spitze seines Füllfederhalters tastete er in dem verstümmelten Torso herum und untersuchte die Wunden. »Können Sie mir sagen, was in dem Bericht stand?«

Leo holte seine Unterlagen hervor und las laut vor.

Tjapkin setzte seine Untersuchung fort. »Da wird nicht erwähnt, dass ihr Magen fehlt. Er wurde von der Speiseröhre abgetrennt und herausgeschnitten.«