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Sie dehnte ihren Aufenthalt in der Schule noch bis zum späten Nachmittag aus und bereitete ihre Stunden vor. Die Schule Nr. 151 war um einiges bequemer als ihre laute stinkende Kammer über dem Restaurant. Die schäbigen Bedingungen sollten eine Strafe sein, aber während sie Leo störten, waren sie gegen Raisa eine stumpfe Waffe. Noch vor allem anderen war sie ungewöhnlich anpassungsfähig. Sie hing weder an Häusern, noch an Städten oder Besitztümern. Solche Gefühle waren ihr fremd, man hatte sie ihr an dem Tag ausgetrieben, als sie als Kind die Zerstörung ihres Heims erlebt hatte. In einem der ersten Kriegsjahre, sie war siebzehn, hatte sie gerade im Wald nach etwas Essbarem gesucht, Pilze in der einen Tasche, Beeren in der anderen. Dann kamen die Granaten. Sie schlugen nicht in ihrer Nähe ein, sondern ein Stück weiter weg. Raisa stieg auf einen Baum und konnte noch durch den Stamm die Erschütterungen spüren. Wie ein Vogel hockte sie auf einem hohen Ast und beobachtete, wie sich ein paar Kilometer entfernt ihre Heimatstadt in Ziegelstaub und Rauch verwandelte und buchstäblich in die Luft flog. Der Horizont war hinter einem künstlichen Nebel verschwunden, der vom Boden hochgeschleudert wurde. Die Zerstörung war zu schnell, zu flächendeckend und zu vollständig passiert, als dass Raisa für ihre Familie

noch ein Fünkchen Hoffnung gehabt hätte. Als das Bombardement vorbei war, stieg sie vom Baum und lief im Schockzustand durch den Wald. Aus ihrer rechten Jackentasche troff der Saft der zerquetschten Beeren. Sie hatte dicke Tränen vergossen, aber nicht aus Trauer, denn weder an diesem Tage noch später hatte sie je geweint. Es war wegen des Staubs - dem Einzigen, was von ihrem Zuhause und ihrer Familie noch übrig geblieben war. Dann war ihr klar geworden, dass die Granaten gar nicht von der deutschen Seite gekommen, sondern direkt aus den russischen Linien über ihren Kopf gepfiffen waren. Später, als Flüchtling, hatte man ihr bestätigt, dass die Armee Befehl gehabt hatte, sämtliche Städte und Dörfer zu zerstören, die in deutsche Hände hätten fallen können. Die vollständige Auslöschung ihrer Kindheit war nichts anderes gewesen als eine vorbeugende Maßnahme.

Mit so einem Begriff ließen sich alle Toten rechtfertigen. Besser, man brachte die eigenen Leute um, als dass ein deutscher Soldat möglicherweise einen Laib Brot fand. Es gab weder Skrupel noch Entschuldigungen, Fragen waren keine erlaubt. Und das, was ihre Eltern ihr über Liebe und Zuneigung beigebracht hatten, das, was Kinder lernen, wenn sie zwei Menschen hören und beobachten, die sich lieben, hatte sie tief in ihrem Inneren vergraben. Solche Gedanken passten nicht in diese Zeit. Ein Heim zu haben, sich irgendwo zu Hause zu fühlen - nur Kinder klammerten sich an solche Träume.

Raisa trat vom Fenster zurück und versuchte, ruhig zu bleiben. Leo hatte sie angefleht, bei ihm zu bleiben, und ihr auch die Risiken ausgemalt, wenn sie gehen sollte. Sie hatte nur aus einem einzigen Grund zugestimmt: Es war immer noch ihre beste Perspektive, wenn auch nicht gerade eine berauschende. Und jetzt setzte er ihre zweite Chance aufs Spiel. Wenn sie in dieser neuen Stadt überleben wollten, dann mussten sie sich diskret verhalten, durften nichts Auffälliges tun, nichts sagen und niemanden provozieren. Mit ziemlicher Sicherheit wurden sie beobachtet. Mit ziemlicher Sicherheit war Basarow ein Informant. Mit ziemlicher Sicherheit hatte Wassili Agenten in der Stadt, die sie beschatteten und nur auf einen Grund warteten, noch einmal nachzulegen und ihr Strafmaß von Exil auf Internierung oder gar Exekution auszuweiten.

Raisa löschte das Licht. Im Dunklen stand sie da und sah aus dem Fenster. Draußen konnte sie niemanden entdecken. Wenn sie von Agenten beschattet wurden, dann waren die sehr wahrscheinlich da unten. Vielleicht hatte man auch deshalb das Fenster gesichert. Sie musste dafür sorgen, dass Leo die Nägel zurückbrachte und sie wieder einschlug. Vielleicht spionierte Basarow ihnen hinterher, wenn sie auf der Arbeit waren. Raisa zog sich Handschuhe und Mantel an. Dann stieg sie aus dem Fenster, ließ sich auf das vereiste Dach hinab und versuchte dabei möglichst keinen Lärm zu machen. Sie schloss das Fenster hinter sich und kraxelte hinunter bis zum Boden. Leo hatte ihr schwören müssen, dass sie einander jetzt so ebenbürtig waren wie noch nie, und schon hatte er sein Wort gebrochen. Wenn er glaubte, sie würde brav an seiner Seite stehen, die gehorsame, aufmerksame Ehefrau, während er ihr Leben aus ganz persönlichen Motiven in Gefahr brachte, dann hatte er sich geschnitten.

Am selben Tag

Teil der offiziellen Untersuchungen war gewesen, dass man den Bereich um den Fundort von Larissas Leiche im Radius von 500 Metern durchsucht hatte. Obwohl Leo keinerlei Erfahrungen mit Mordermittlungen hatte, kam ihm diese Fläche doch reichlich klein vor. Alles, was man entdeckt hatte, waren Larissas Kleider, die etwa 40 Schritt von der Leiche entfernt etwas weiter im Wald gefunden worden waren. Warum lagen Larissas Sachen, ihre Bluse, Rock, Mütze, Jacke und Handschuhe, alles ordentlich übereinander gefaltet, so weit von der Leiche weg? An den Kleidern hatte man keinerlei Blutspuren gefunden, keine Messereinstiche, Schnitte oder Löcher. Entweder war Larissa Petrowa entkleidet worden, oder sie hatte sich selbst ausgezogen. Vielleicht hatte sie versucht wegzulaufen, in Richtung Waldrand, und war dann kurz vor der Lichtung doch noch eingeholt worden. Wenn das stimmte, dann war sie nackt weggelaufen.

Der Mörder musste sie überredet haben, mit ihm zu kommen, vielleicht hatte er ihr auch Geld für Sex geboten. Sobald sie im Wald einigermaßen verborgen gewesen waren und sie ihre Kleider ausgezogen hatte, hatte er sie vermutlich angegriffen. Irgendwie erkannte Leo in dem Verbrechen überhaupt keine Logik. Er konnte sich keinen Reim machen auf all die eigenartigen Details, die Schnur, den entfernten Magen. Und doch gingen sie ihm nicht mehr aus dem Sinn.

Selbst wenn man einrechnete, dass man aus schierer Inkompetenz vielleicht etwas übersehen hatte, waren die Chancen, jetzt noch etwas Neues zu finden, gleich null. So kam es, dass Leo sich in der zweifelhaften Notwendigkeit wiederfand, noch eine Leiche zu finden. Im Winter kam bestimmt kein Mensch in die Wälder ringsum. Ein Toter konnte hier monatelang unentdeckt liegen, und wäre genauso gut erhalten wie Larissa. Einiges deutete daraufhin, dass Larissa nicht das erste Opfer des Täters gewesen war. Der Arzt hatte vermutet, dass der Mann sich auskannte. Solche Fähigkeiten und Selbstsicherheit erwarb man sich nur durch Praxis. Die Methode legte ein bestimmtes Muster nahe, und ein Muster wiederum ließ einen Serientäter vermuten. Und dann war da natürlich noch der Tod von Arkadi - eine Tatsache, die Leo momentan noch außen vor hielt.

Leo nutzte das Licht des Mondes, den Rest erledigte seine Taschenlampe. Sein Leben hing davon ab, dass er unentdeckt blieb. Der Drohung des Generals, ihn umzubringen, glaubte er aufs Wort. Einen ersten Rückschlag hatte sein Bemühen um Geheimhaltung allerdings erlitten, als Alexander, der Mann aus dem Bahnhof, ihn in Richtung Wald hatte marschieren sehen und seinen Namen gerufen hatte. Leo war keine glaubwürdige Lüge eingefallen, also hatte er zugeben müssen, dass er nach Beweisen im Mordfall an dem kleinen Mädchen suchte. Immerhin hatte er Alexander gebeten, niemandem ein Sterbenswörtchen zu erzählen, weil dies die Ermittlungen beeinträchtigen könne. Alexander hatte es auch versprochen und ihm viel Glück gewünscht, nicht ohne anzumerken, er selbst habe ja schon immer vermutet, dass der Mörder ein Zugreisender gewesen sei. Warum hätte die Leiche sonst so nah beim Bahnhof liegen sollen? Ein Einheimischer hätte im Wald doch viel abgelegenere Ecken gekannt. Leo hatte ihm zugestimmt und sich insgeheim vorgenommen, dem Mann auf den Zahn zu fühlen. Er machte zwar einen netten Eindruck, aber ein unschuldiger Anstrich besagte gar nichts. Dann fiel ihm ein, dass echte Unschuld einem ja auch nicht viel weiterhalf.