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Mit Hilfe einer Karte, die er auf der Wache hatte mitgehen lassen, hatte Leo die den Bahnhof umgebenden Wälder in vier Suchabschnitte eingeteilt. Im ersten Abschnitt, in dem die Leiche des Opfers entdeckt worden war, hatte er nichts gefunden. Hunderte von Stiefeln hatten einen Großteil des Bodens zertrampelt, und nicht einmal der vermaledeite Schnee war noch da. Man hatte ihn vermutlich abgetragen, um auch wirklich noch die letzte Spur dieses Verbrechens zu tilgen. Die anderen drei Abschnitte waren, soweit Leo sehen konnte, noch nicht durchsucht worden, denn der Schnee lag unberührt da. Er hatte eine Stunde gebraucht, um den zweiten Bereich zu durchsuchen, und am Ende waren seine Finger taub vor Kälte. Ein Vorteil des Schnees war allerdings, dass er relativ gut vorankam, weil er mit den Augen große Flächen nach Fußspuren absuchen und mit seinen eigenen Fußspuren die Bereiche markieren konnte, die er bereits durchsucht hatte.

Kurz bevor er mit dem dritten Abschnitt fertig war, hielt Leo inne. Er hatte Schritte gehört, ein Knirschen im Schnee. Er schaltete die Taschenlampe aus, verbarg sich hinter einem Baum und kauerte sich hin. Aber er konnte sich verstecken, wie er wollte, offenbar folgte jemand seinen Fußspuren. Sollte er weglaufen? Das war eigentlich seine einzige Chance.

»Leo?«

Er richtete sich auf und schaltete die Taschenlampe an. Es war Raisa.

Um sie nicht zu blenden, senkte er den Lichtstrahl. »Ist man dir gefolgt?«

»Nein.«

»Was machst du hier?«

»Dasselbe wollte ich dich auch gerade fragen.«

»Das habe ich dir doch erklärt. Ein junges Mädchen ist ermordet worden. Sie haben einen Verdächtigen, aber ich glaube nicht ...«

Raisa unterbrach ihn, ungehalten und schroff. »Du glaubst also nicht, dass er schuldig ist?«

»Nein.«

»Und seit wann schert dich so etwas?«

»Raisa, ich versuche nur ...«

»Leo, hör auf. Ich glaube nämlich nicht, dass ich es ertrage, wenn du mir jetzt auftischst, dass dein Gerechtigkeitssinn dich dazu treibt. Das hier nimmt ein böses Ende, und wenn es für dich böse endet, dann bin ich auch dran.«

»Ich soll also nichts unternehmen?«

Raisa wurde wütend. »Soll ich etwa auch noch Ehrfurcht vor deinen privaten Ermittlungen haben? In diesem Land gibt es überall Unschuldige, die ohne Grund angeklagt, eingesperrt und umgebracht werden. Und ich kann nichts dagegen machen. Ich kann höchstens versuchen zu vermeiden, dass mir das Gleiche blüht.«

»Glaubst du etwa, wenn wir uns nur schön brav ducken und nichts Falsches machen, dann passiert uns nichts? Du hattest auch vorher schon nichts Unrechtes getan, und trotzdem wollten sie dich als Verräterin an die Wand stellen. Stillhalten ist noch lange keine Garantie, dass sie einen nicht trotzdem verhaften. Diese Lektion habe ich mittlerweile gelernt.«

»Du benimmst dich wie ein Kind, das gerade etwas Neues gelernt hat. Dabei weiß jeder, dass man sich nie sicher sein kann. Die Frage ist nur, welches Risiko man eingeht. Und dieses Risiko hier ist fahrlässig. Glaubst du vielleicht, wenn du einen fängst, der es verdient, dass sich dann all die unschuldigen Männer und Frauen, die du verhaftet hast, einfach in Luft auflösen? Hier geht es doch gar nicht um irgendein Mädchen, hier geht es um dich.«

»Du hasst mich, egal, ob ich linientreu bin oder nicht. Du hasst mich, owohl ich mich bemühe, das Richtige zu tun.« Leo schaltete die Taschenlampe aus. Er wollte nicht, dass sie sah, wie wütend er war. Natürlich hatte sie recht. Alles, was sie sagte, stimmte. Ihr Schicksal war mit seinem verknüpft. Er hatte kein Recht, ohne ihr Einverständnis einfach mit irgendwelchen Nachforschungen anzufangen. Und schon gar nicht hatte er das Recht, den Moralprediger zu spielen.

»Raisa, ich glaube nicht, dass sie uns jemals in Ruhe lassen werden. Ich gehe davon aus, dass sie nur ein paar Monate verstreichen lassen, vielleicht ein Jahr von meiner Ankunft hier an gerechnet. Danach verhaften sie mich.«

»Woher willst du das wissen?«

»Sie lassen einen nie in Ruhe. Vielleicht müssen sie erst noch mehr Belastungsmaterial gegen mich sammeln. Vielleicht wollen sie auch nur, dass ich erst in der Versenkung verfaule, bevor sie mich endgültig erledigen. Aber viel Zeit habe ich nicht mehr. Und diese Zeit möchte ich dazu nutzen, denjenigen zu finden, der das hier verbrochen hat. Er muss gefasst werden. Mir ist klar, dass dir das nicht gerade hilft. Du hast aber noch eine Möglichkeit zu überleben. Kurz bevor man mich verhaftet, werden sie ihre Ob-servierungsanstrengungen verdoppeln. Das ist der Moment, in dem du zu ihnen gehen und ihnen irgendetwas über mich auftischen solltest. Du musst so tun, als würdest du mich verraten.«

»Und was soll ich bis dahin machen? Einfach nur rumsitzen und warten? Für dich lügen? Dich decken?«

»Es tut mir leid.«

Raisa schüttelte den Kopf. Sie wandte sich um und machte sich auf den Rückweg zur Stadt. Als er allein war, schaltete Leo die Taschenlampe wieder an. Er hatte kaum noch Kraft, seine Bewegungen wurden schwerfällig und er war in Gedanken gar nicht mehr bei seinem Fall. War das Ganze etwa nur ein selbstsüchtiges und sinnloses Unterfangen? Er war noch nicht weit gegangen, als er hinter sich wieder Schritte im Schnee hörte.

Raisa war zurückgekommen. »Bis du sicher, dass der Mann schon andere ermordet hat?«

»Ja. Und wenn ich noch eine Leiche finde, dann müssen sie die Beweisaufnahme wieder eröffnen. Die Indizien gegen Warlam Ba-binitsch betreffen ausschließlich diesen Fall. Wenn ich noch eine Leiche finde, müssen sie ihn freilassen.«

»Du hast mir gesagt, dass dieser Warlam gestört ist. Das hört sich an, als könnte man ihm praktisch jedes Verbrechen in die Schuhe schieben. Und wenn sie ihm nun einfach zwei Morde anlasten?«

»Da hast du recht, das Risiko besteht. Aber noch ein Toter ist die einzige Chance, dass die Ermittlungen überhaupt wieder aufgenommen werden.«

»Wenn wir also eine zweite Leiche finden, dann hast du deine Ermittlung? Und wenn wir keine finden, versprichst du mir dann, dass du die Finger von der Sache lässt?«

»Ja.«

»Na schön. Du gehst vor.«

Zögerlich und unsicher tapsten sie weiter in den Wald hinein.

Nachdem sie fast eine halbe Stunde nebeneinander hermarschiert waren, streckte Raisa plötzlich ihre Hand aus. Zwei unterschiedliche Fußspuren kreuzten nebeneinander verlaufend ihren Weg, die eines Erwachsenen und die eines Kindes. Ungewöhnliche Anzeichen wiesen sie nicht auf. Das Kind war nicht etwa mitgeschleift worden. Die Fußstapfen des Erwachsenen waren ausgreifend und tief. Ein großer, schwerer Mann hatte sie hinterlassen. Die des Kindes hatten sich kaum eingedrückt. Das Kind war offenbar klein und noch jung gewesen.

Raisa schaute Leo an. »Die könnten noch kilometerlang so weitergehen, bis zu irgendeinem Dorf auf dem Land.«

»Vielleicht.«

Raisa verstand. Leo würde diesen Spuren bis zum Ende nachgehen.

Sie waren den Spuren nun schon eine Weile gefolgt, ohne dass ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen wäre. Leo beschlich der Gedanke, dass Raisa vielleicht recht hatte. Vielleicht gab es für die Spuren hier eine völlig harmlose Erklärung. Dann blieb er abrupt stehen. Ein Stück vor ihnen war der Schnee plattgedrückt, so als hätte sich jemand dort hingelegt. Leo rannte weiter. Jetzt liefen die Fußspuren durcheinander, so als hätte es einen Kampf gegeben. Der Erwachsene hatte sich von der Stelle entfernt, während das Kind sich in entgegengesetzter Richtung weiterbewegt hatte, seine Spuren waren jetzt unregelmäßiger und unschärfer und lagen weiter auseinander. Es war gelaufen. Die Abdrücke im Schnee verrieten, dass es gestürzt war, man sah einen einzelnen Händeabdruck. Aber es war wieder aufgestanden, weitergelaufen und dann erneut hingefallen. Auf dem Boden konnte man Spuren eines Kampfes erkennen, aber es war unmöglich zu sagen, gegen wen oder was das Kind sich gewehrt hatte, denn sonst waren keine Spuren zu entdecken. Was auch immer es gewesen sein mochte, dem Kind war es gelungen, sich noch ein weiteres Mal aufzurappeln und weiterzulaufen. Seine Verzweiflung konnte man förmlich im Schnee ablesen. Von dem Erwachsenen dagegen waren immer noch keine Spuren zu sehen. Erst mehrere Meter weiter vorn tauchten sie wieder auf. Tiefe Fußstapfen kamen zwischen den Bäumen hervor. Aber seltsam, die Spuren des Erwachsenen verliefen im Zickzack, mal hierhin, mal dorthin, und folgten denen des Kindes nur ganz ungefähr. Völlig unverständlich. Warum hatte der Mann sich denn erst von dem Kind entfernt, um es sich dann doch anders zu überlegen und wirr hinter ihm herzutaumeln? Nach den Winkeln der Fußspuren zu urteilen waren die beiden irgendwo hinter dem nächsten Baum wieder zusammengetroffen.