Der Junge in seinem Traum war Arkadi gewesen. Fjodors Sohn.
Raisa hatte Leo gestanden, dass es ihr schwergefallen war, sich auf die Schule zu konzentrieren. Sie hatte so tun müssen, als sei alles in Ordnung, und doch gleichzeitig gewusst, dass da im Wald ein toter Junge lag. Sie hatte kaum an sich halten können, die Kinder nicht zu warnen und irgendwie die Stadt zu alarmieren, wo doch die Eltern überhaupt keine Ahnung von der Bedrohung hatten. Niemand hatte sein Kind vermisst gemeldet. In den Schulunterlagen fanden sich keine unentschuldigten Abwesenheiten. Wer war der Junge im Wald? Sie wollte, dass er einen Namen hatte, wollte seine Familie finden. Leo konnte sie nur bitten zu warten. Trotz ihres Unbehagens hatte sie sich durch seine Einschätzung vertrösten lassen, dass dies die einzige Möglichkeit war, einen unschuldigen jungen Menschen zu befreien und die Jagd auf den wirklich Schuldigen einzuleiten. Leos Argumentation war so grotesk, dass sie schon wieder vollkommen plausibel klang.
Nachdem er Arbeiter aus den Sägewerken für die Suchtrupps rekrutiert hatte, teilte Nesterow die Leute in sieben Mannschaften zu je zehn Personen auf. Leo war einer Gruppe zugeteilt, die die Wälder hinter dem Krankenhaus Nr. 379 durchsuchen sollte, der Seite, wo man die Leiche gefunden hatte, gegenüber. Ideal, fand Leo. Es war erheblich besser, wenn er den Jungen nicht selber fand. Außerdem bestand ja noch die Möglichkeit, dass sie auf noch mehr Leichen stießen. Leo war überzeugt, dass diese Opfer nicht die ersten waren.
Die zehn Leute aus Leos Mannschaft teilten sich in zwei Dreier-und eine Vierergruppe auf. Leo war Nesterows Stellvertreter zugeteilt, einem Mann, der zweifellos angewiesen worden war, ihn im Auge zu behalten. Hinzu kam eine Frau aus der Sägemühle. Sie brauchten einen vollen Tag, um ihren Suchabschnitt zu durchkämmen, mehrere Quadratkilometer durch hohe Schneewehen, die sie mit Stöcken durchstoßen mussten, um sicherzugehen, dass sich darunter nichts befand. Eine Leiche hatten sie nicht entdeckt. Und als sie mit den anderen beiden Gruppen wieder am Krankenhaus zusammentrafen, hatten auch diese nichts gefunden. In den Wäldern war nichts. Leo konnte es kaum erwarten zu erfahren, was auf der anderen Seite der Stadt los war.
***
Nesterow stand am Waldrand neben der Hütte der Gleismeisterei, die man requiriert und in eine provisorische Einsatzzentrale verwandelt hatte. Leo kam näher und versuchte dabei, einen möglichst gemächlichen und gleichgültigen Eindruck zu machen. Nesterow fragte: »Was habt ihr gefunden?«
»Nichts.«
Nach einer kalkulierten Pause fügte Leo hinzu: »Und hier?«
»Auch nichts. Überhaupt nichts.«
Leos gleichgültige Pose fiel von ihm ab. Ihm war klar, dass man seine Reaktion beobachtete, deshalb wandte er sich ab und versuchte herauszubekommen, was schiefgelaufen war. Wie hatten sie die Leiche übersehen können? Lag sie immer noch an ihrem Platz? Die Spuren waren deutlich erkennbar. Vielleicht hatte der erste Suchabschnitt sich nicht bis zur Leiche erstreckt, aber dann doch mindestens bis zu den Fußspuren. Und wenn die Suchmannschaft den Spuren nicht bis zum Ende gefolgt war? Wenn sie nicht motiviert genug waren, hatten sie vielleicht aufgegeben, sobald die Spuren über den ihnen zugewiesenen Abschnitt hinausgingen. Die meisten Gruppen kehrten bereits zurück. Nicht mehr lange, dann würde man die gesamte Operation für beendet erklären, und die Leiche des Jungen lag immer noch im Wald.
Leo fing an, die zurückkehrenden Männer auszufragen. Zwei Milizbeamte, keiner von ihnen älter als achtzehn, hatten zu der Mannschaft gehört, die die dem Fundort der Leiche am nächsten hegenden Abschnitte durchkämmt hatte. Sie gaben an, dass sie Spuren gefunden hatten, aber die waren ihnen unverdächtig erschienen, weil es die Abdrücke von vier Leuten waren und nicht nur von zweien. Sie hatten angenommen, dass da eine Familie unterwegs gewesen war. Leo hatte nicht daran gedacht, dass Raisa und er ja ebenfalls jeweils eine Spur hinterlassen hatten, die parallel zu denen des Opfers und seines Mörders verliefen! Mühsam gegen seine Enttäuschung ankämpfend vergaß er, dass er ja keinerlei Autorität mehr besaß, und beorderte die beiden Männer zurück in den Wald, um den Spuren bis zum Ende nachzugehen. Die Beamten ließen sich nicht überzeugen. Schließlich konnten die Spuren noch kilometerweit weitergehen. Und überhaupt: Seit wann hatte ihnen dieser Leo Befehle zu erteilen?
Leo hatte keine andere Wahl, als zu Nesterow zu gehen und unter Zuhilfenahme einer Karte zu erklären, dass es in dieser Richtung keine Dörfer gab und die Spuren deshalb verdächtig waren.
Aber Nesterow gab den beiden Beamten recht. Die vier verschiedenen Fußstapfen zeigten, dass das wahrscheinlich keine Spur war, der zu folgen sich lohnte.
Leo konnte seine Enttäuschung nicht mehr bezähmen. »Dann gehe ich eben allein.«
Nesterow starrte Leo an. »Wir gehen beide.«
Leo folgte seinen eigenen Fußstapfen immer tiefer in den Wald hinein, und nur Nesterow war bei ihm. Zu spät war Leo klar geworden, dass er in Gefahr schwebte, unbewaffnet, wie er war und allein mit diesem Mann, der ihn am liebsten tot gesehen hätte. Wenn man ihn umbringen wollte, war das hier ein guter Platz dafür.
Nesterow machte einen ruhigen Eindruck. Er rauchte. »Also, Leo, was werden wir am Ende dieser Spur finden?«
»Keine Ahnung.«
»Aber das hier sind doch Ihre Fußabdrücke?« Nesterow deutete auf die Spuren vor ihm und dann auf jene, die Leo gerade hinterlassen hatte. Sie waren identisch.
»Wir werden die Leiche eines toten Kindes finden.«
»Das Sie bereits entdeckt haben.«
»Vor zwei Tagen.«
»Aber Sie haben es nicht gemeldet.«
»Ich wollte erst klarstellen, dass Warlam Babinitsch von diesem Mord hier keine Ahnung hatte.«
»Sie hatten Sorge, dass wir ihm den Mord anhängen würden?«
»Die Sorge habe ich immer noch.«
Würde Nesterow die Waffe ziehen? Leo wartete. Nesterow rauchte seine Zigarette auf und ging dabei weiter. Beide schwiegen, bis sie die Leiche entdeckt hatten. Der Junge lag noch genauso da, wie Leo es in Erinnerung hatte. Auf dem Rücken, nackt, den Mund voller Rinde, der Leib ein einziges Gemetzel. Leo blieb zurück und beobachtete Nesterow bei seiner Untersuchung. Nes-terow nahm sich Zeit. Leo sah, wie sehr das Verbrechen seinen Vorgesetzten aufbrachte. Irgendwie tröstete ihn das.
Schließlich wandte Nesterow sich zu Leo um. »Ich will, dass Sie umkehren. Rufen Sie das Büro des Staatsanwalts an. Ich selbst bleibe hier bei der Leiche.« Offenbar fielen ihm Leos Bedenken wieder ein, denn er fügte hinzu: »Es ist offensichtlich, dass War-lam Babinitsch mit diesem Mord hier nichts zu tun hatte.«
»Da stimme ich Ihnen zu.«
»Die beiden Fälle haben nichts miteinander zu tun.«
»Die Kinder wurden von ein und demselben Mann umgebracht.«
»Ein Mädchen ist sexuell missbraucht und ermordet worden. Und ein Junge ist sexuell missbraucht und ermordet worden. Das sind unterschiedliche Verbrechen. Unterschiedliche Abartigkeiten.«
»Wir wissen nicht, ob der Junge sexuell missbraucht worden ist.«
»Sehen Sie ihn sich doch an!«
»Weder ich noch der Arzt, mit dem ich mich unterhalten habe, glauben, dass das Mädchen vergewaltigt wurde.«
»Aber sie war nackt.«
»Aber sie hatten beide Borke im Mund. Baumrinde, zermahlene Baumrinde.«
»Larissa hatte Erde im Mund.«
»Das stimmt nicht.«
»Warlam Babinitsch hat gestanden, dass er ihr den Mund mit Erde vollgestopft hat.«