Nesterow hatte bislang 43 Fälle gezählt. Jetzt beugte er sich vor, nahm noch eine Stecknadel aus der Schachtel und steckte sie mitten in Moskau ein. Arkadi war Kind Nr. 44.
***
Nesterow wachte mit offenem Mund auf und stellte fest, dass er mit dem Gesicht im Sand lag. Er richtete sich auf, wischte sich den Sand ab. Die Sonne hatte sich hinter einer Wolke verborgen. Er schaute sich nach seinen Kindern um, suchte den Strandabschnitt ab, auf dem Leute spielten. Sein ältester Sohn, der siebenjährige Efim, hockte am Wasserrand. Aber seinen Jüngsten, der erst fünf war, konnte er nirgendwo entdecken. Nesterow wandte sich an seine Frau, die gerade fürs Mittagessen Trockenfleisch in Streifen schnitt. »Wo ist Vadim?«
Inessa sah auf. Ihren ältesten Sohn entdeckte sie sofort, aber wo war der Kleine? Noch mit dem Messer in der Hand stand sie auf, wandte sich um und suchte den Bereich hinter ihnen ab. Als sie den Jungen nicht sah, ließ sie das Messer fallen. Beide liefen sie zu Efim und knieten sich zu beiden Seiten neben ihn. »Wo ist dein Bruder?«
»Er hat gesagt, dass er zu euch zurückwollte.«
»Wann?«
»Weiß nicht.«
»Denk nach!«
»Noch nicht lange her. Ich weiß nicht genau.«
»Wir haben euch doch gesagt, ihr sollt zusammenbleiben.«
»Aber er hat gesagt, dass er zu euch zurückwill.«
»Ist er nicht ins Wasser gegangen?«
»Er ist da lang gegangen, in eure Richtung.«
Nesterow stand wieder auf und spähte hinaus aufs Wasser. Vadim war nicht ins Wasser gegangen, er hatte nicht schwimmen wollen. Also war er irgendwo auf dem Strand, irgendwo zwischen diesen Hunderten von Leuten. Bilder aus den Kriminalakten stiegen vor Nesterows innerem Auge auf. Ein junges Mädchen hatte man nicht weit von einem beliebten Wanderpfad entlang eines Flusses gefunden. Ein anderes kleines Mädchen war kaum ioo Meter von ihrem Elternhaus entfernt in einem Park ermordet worden, hinter einem Denkmal.
Er kauerte sich wieder neben seinen Sohn. »Geh zurück zu den Decken. Und da bleibst du, egal wer dich anspricht und was sie sagen. Selbst wenn es Erwachsene sind, die verlangen, dass du ihnen gehorchst, du bleibst, wo du bist!«
Dann fiel Nesterow ein, wie viele Kinder sich hatten überreden lassen, mit in den Wald zu gehen. Er besann sich eines Besseren und nahm seinen Sohn bei der Hand. »Komm mit. Wir suchen zusammen nach deinem Bruder.«
Seine Frau ging den Strand hoch, er selbst nahm die entgegengesetzte Richtung und schlängelte sich durch das Gewirr der Leute. Er ging schnell, zu schnell für Efim, deshalb nahm er ihn auf den Arm und trug ihn. Sie liefen bis zum Ende des Strands, wo er in hohes Schilfgras überging.
Efim wusste ein bisschen darüber, was sein Vater arbeitete. Er wusste auch von den beiden ermordeten Kindern bei ihnen zu Hause, aber seine Eltern hatten ihn schwören lassen, mit niemandem darüber zu reden. Keiner sollte sich deswegen Sorgen machen, die Fälle würden schon aufgeklärt werden. Efim wusste, dass sein kleiner Bruder in Gefahr war. Er war ein redseliger, freundlicher Junge, der bestimmt zu keinem unhöflich wäre. Efim hätte besser auf ihn aufpassen sollen. Das hier war seine Schuld. Er fing an zu weinen.
Am anderen Ende des Strands rief Inessa nach ihrem Sohn. Sie hatte die Akten der Fälle gelesen, in denen ihr Mann ermittelt hatte. Sie wusste haargenau, was mit den verschwundenen Kindern passiert war. Jetzt bekam sie panische Angst und machte sich schwerste Vorwürfe. Sie selbst hatte ihrem Mann gesagt, er sollte Leo helfen. Sie hatte ihn ermuntert und ihn nur zu der Vorsichtsmaßnahme ermahnt, die Nachforschungen geheim zu halten. Von seinem Naturell her war er eher von der unverblümten Sorte, und bei dieser Sache musste man behutsam vorgehen. Sie hatte seine Briefe gelesen, bevor er sie abgeschickt hatte, und hier und da noch Zusätze vorgeschlagen für den Fall, dass die Briefe abgefangen würden. Als er ihr die Landkarte mit den Stecknadeln gezeigt hatte, hatte sie jede einzelne Nadel angefasst. Es war eine unvorstellbare Zahl, und in jener Nacht hatte Inessa bei ihren Söhnen im Bett geschlafen. Ihre Ferien mit weiteren Nachforschungen zu verknüpfen war auch ihre Idee gewesen. Die meisten Morde konzentrierten sich im Süden des Landes, und Nesterows einzige Möglichkeit, sich hier unauffällig für längere Zeit aufzuhalten, war, dass er zur Verschleierung die Familie mitnahm. Erst jetzt wurde ihr so richtig bewusst, dass sie ihre Kinder in Gefahr gebracht hatte. Sie hatte sie mitten ins Zentrum dieser mysteriösen Gräuel geführt. Sie hatte die Macht dessen, nach dem sie suchten, unterschätzt. Kein Kind war sicher. Scheinbar nach Belieben wurden sie entführt und nur wenige Meter von ihren Elternhäusern entfernt umgebracht. Und jetzt hatte diese Bestie sich ihren Jungen geschnappt.
Außer Atem rief sie nach ihrem Sohn, schrie mit angsterfüllten Augen den Badenden seinen Namen ins Gesicht. Leute umringten sie und gafften sie mit dumpfer Gleichgültigkeit an. Inessa flehte sie an, ihr zu helfen: »Er ist erst fünf Jahre. Er ist entführt worden. Wir müssen ihn wiederfinden.«
Eine ernst dreinblickende Frau versuchte sie festzuhalten. »Er wird schon irgendwo sein.«
»Verstehen Sie nicht? Er ist in schrecklicher Gefahr.«
»Was denn für eine Gefahr?«
Inessa stieß die Frau zur Seite, wandte sich hierhin und dorthin und rief immer wieder seinen Namen. Plötzlich spürte sie, wie die starken Hände eines Mannes ihre Arme umklammerten. »Mein kleiner Junge ist entführt worden. Bitte helfen Sie mir, ihn zu suchen.«
»Jetzt beruhigen Sie sich doch!«
»Nein! Man wird ihn umbringen. Ermorden. Sie müssen mir helfen, ihn zu finden!«
Der Mann lachte. »Hier wird keiner umgebracht. Ihr Junge ist vollkommen sicher.«
Inessa wand sich, aber der Mann ließ sie nicht los. Unter den mitleidigen Blicken der Umstehenden versuchte sie sich loszureißen. »Lassen Sie mich los! Ich muss meinen Sohn finden.«
Nesterow schob sich durch die Menge und kämpfte sich zu seiner Frau durch. Er hatte seinen Jüngsten spielend im Schilf gefunden und trug jetzt beide Kinder auf dem Arm. Der Mann ließ Inessas Arm los. Sie nahm Vadim und umfasste seinen Kopf, als sei er aus Glas und könne zerbrechen. So stand die Familie beieinander, umgeben von feindseligen Gesichtern: Warum benahmen diese Leute sich so komisch? Was stimmte nicht mit ihnen? Efim flüsterte: »Lasst uns fahren.«
Sie drängten sich durch die Menge, klaubten eilig ihre Sachen zusammen und liefen zum Wagen. Am Rand des Feldwegs standen nur noch vier weitere Autos, alle anderen Badegäste waren mit dem Zug gekommen. Nesterow startete den Motor und fuhr los.
***
Vom Strand aus sah eine dünne Frau mit grau melierten Haaren dem sich entfernenden Wagen hinterher. Sie hatte sich bereits das Nummernschild notiert. Denn sie fand, dass man dieser Familie einmal auf den Zahn fühlen musste.