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Sie ging weiter den Pfad entlang, und der Mann kam immer näher. Wurde er etwa schneller? Es schien so. Um sein Gesicht zu erkennen, war es zu dunkel. Er hatte einen Hut auf. Nadja wich zum Rand des Pfades aus, sodass er genügend Platz hatte vorbeizukommen. Jetzt trennten sie nur noch ein paar Meter. Nadja hatte plötzlich Angst und ein unerklärliches Verlangen, an ihm vorbeizuhuschen. Sie verstand selbst nicht, warum. Daran war nur ihre Mutter schuld. Bomberpilotinnen hatten keine Angst. Nadja fing an zu laufen, und weil sie sich Gedanken darüber machte, dass sie den Herrn damit beleidigte, rief sie: »Guten Abend.«

Mit seinem freien Arm fasste Andrej sie um die Taille und hob den schmächtigen Körper hoch, sodass ihr Gesicht direkt vor seinem war. Er starrte sie an. Sie war zu Tode erschrocken, ihr stockte der Atem und ihr ganzer Körper war starr vor Angst.

Und dann fing Nadja an zu lachen. Als sie sich von dem Schrecken erholt hatte, legte sie ihrem Vater die Arme um den Hals und umarmte ihn. »Du hast mir vielleicht Angst gemacht.«

»Warum bist du so spät noch draußen?«

»Ich wollte ein bisschen spazieren gehen.«

»Weiß deine Mutter, dass du hier draußen bist?«

»Ja.«

»Du lügst ja.«

»Tue ich nicht. Warum kommst du aus dieser Richtung? Du kommst doch nie aus dieser Richtung. Wo bist du gewesen?«

»Auf der Arbeit. Ich hatte in einem der Dörfer kurz vor der Stadt zu tun. Und die einzige Möglichkeit zurückzukommen war zu Fuß. Es hat nur ein paar Stunden gedauert.«

»Da musst du aber müde sein.«

»Bin ich auch.«

»Kann ich deinen Koffer tragen?«

»Aber ich trage dich doch schon, und selbst wenn du dann meinen Koffer trägst, wäre das Gewicht immer noch dasselbe.«

»Ich könnte ja allein gehen und den Koffer tragen.«

»Ich glaube, das schaffe ich noch.«

»Ich bin froh, dass du zu Hause bist, Vater.«

Er hielt immer noch seine Tochter im Arm und drückte die Tür deshalb mit der Unterseite seines Koffers auf. Er trat in die Küche. Seine jüngste Tochter kam herbeigelaufen, sagte ihm guten Abend und umarmte ihn. Er sah, wie sehr seine Familie sich über seine Rückkehr freute. Sie gingen einfach davon aus, dass er immer wiederkam, wenn er fortging.

Mit einem Auge behielt Nadja die Katze im Auge, die offenbar eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit war, die der Vater ihr schenkte. Sie sprang vom Fensterbrett und schloss sich dem Wiedersehen an, indem sie sich am Bein ihres Vaters rieb. Als Andrej sie absetzte, trat Nadja der Katze ganz aus Versehen auf die Pfote, so-dass sie aufjaulend davonschoss. Aber bevor Nadja ihren kleinen Triumph genießen konnte, hatte ihr Vater sie schon am Handgelenk gepackt und starrte sie durch seine dicken, viereckigen Brillengläser an. Sein Gesicht zuckte vor Wut.

»Rühr sie ja nicht an.«

Nadja war zum Heulen zumute, aber sie biss sich auf die Lippen. Sie hatte schon mitbekommen, dass Weinen auf ihren Vater keinen Eindruck machte.

Andrej ließ seine Tochter los und richtete sich auf. Er war nervös, und ihm war heiß. Er sah seine Frau an. Die hatte ihn noch nicht begrüßt, aber sie lächelte ihn an. »Hast du schon gegessen?«

»Ich muss meine Sachen wegräumen. Ich will nichts essen.«

Seine Frau hatte nicht versucht, ihn zu umarmen oder zu küssen. Nicht vor den Kindern. In solchen Sachen war er sehr streng. Sie verstand das. »Hattest du einen erfolgreichen Tag?«

»Sie wollen, dass ich in zwei Tagen wieder losfahre. Ich weiß noch nicht, für wie lange.« Er bekam schon wieder Platzangst. Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er zur Tür, die in den Keller führte. Mit hoch aufgerichtetem Schwanz folgte ihm die Katze, die plötzlich hellwach war.

Er schloss die Tür hinter sich zu und ging die Treppe hinunter. Jetzt, wo er allein war, ging es ihm sofort besser. Früher einmal hatte ein älteres Ehepaar hier unten gewohnt, aber dann war die Frau gestorben und der Mann war zu seinem Sohn gezogen. Das Wohnungsamt hatte kein anderes Paar geschickt, um ihren Platz einzunehmen. Es war kein schöner Raum, nur ein ins Flussufer eingegrabenes Kellerloch. Die Wände waren immer feucht. Im Winter war der Raum bitterkalt. Es gab eine Burzuika, einen Holzofen, den die alten Leute acht Monate im Jahr hatten brennen lassen müssen. Aber trotz der vielen Nachteile hatte der Keller auch einen Vorteiclass="underline" Er gehörte ihm. In einer Ecke standen zwei Stühle und ein Tisch, daneben ein schmales Bett und eine Truhe, die dem alten Ehepaar gehört hatten. Manchmal schlief er auch hier unten, wenn die Temperaturen erträglich waren. Andrej zündete eine Gaslaterne an, und es dauerte nicht lange, da kroch auch schon durch das Loch in der Wand für das Ofenrohr eine weitere Katze von draußen herein.

Andrej machte den Koffer auf. Zwischen seinen Unterlagen und den Überresten seines Mittagessens befand sich ein Glasgefäß mit einem Schraubdeckel. Er nahm ihn ab. Drinnen befand sich, eingewickelt in eine alte, blutdurchtränkte Ausgabe der >Prawda<, der Magen des Mädchens, das er vor ein paar Stunden getötet hatte. Er schälte das Papier ab und achtete darauf, dass keine Fetzen mehr an dem Gewebe klebten. Dann legte er den Magen in einen Blechteller, schnitt ihn zuerst in Streifen und dann in Würfel. Als er damit fertig war, heizte er den Ofen an. Als der Ofen endlich heiß genug war, um den Magen zu braten, war Andrej bereits von sechs Katzen umringt. Er briet das Fleisch, bis es rundherum braun war, und gab es wieder zurück in den Blechteller. Dann stand er da, beobachtete, wie die Katzen ihm um die Beine strichen, und erfreute sich an ihrer Gier. Er hielt ihnen das Fressen hin und neckte sie, bis sie miauten. Sie waren vollkommen ausgehungert, und der Geruch des gebratenen Fleisches machte sie schier verrückt.

Nachdem er sie genug geneckt hatte, stellt er ihnen ihr Fressen hin. Die Katzen drängten sich in einem Kreis darum und begannen zu fressen. Sie schnurrten vor Zufriedenheit.

***

Von oben starrte Nadja die Kellertür an und fragte sich, was das für ein Vater war, dem Katzen lieber waren als seine Kinder. Dabei würde er nur zwei Tage da sein. Nein, auf ihren Vater war sie nicht wütend, dem wollte sie keine Schuld geben. Die Katzen waren schuld. Da kam ihr ein Gedanke. Es konnte doch nicht allzu schwierig sein, eine Katze totzumachen. Bloß, wie stellte man es dann an, dass niemand dahinterkam?

Am selben Tag

Auf der Worowski-Straße stellten sich Leo und Raisa am Ende einer Warteschlange vor einem Lebensmittelladen an. Es würde mehrere Stunden dauern, bis die Schlange im Innern des Ladens angekommen war. Dort würden die Leute ihre Bestellung abgeben und anschließend in einer zweiten Schlange warten, um zu bezahlen. Nach diesen zwei Schlangen gab es eine dritte, um die Waren in Empfang zu nehmen. Sie konnten problemlos bis zu vier Stunden in einer dieser drei Schlangen verbringen und unauffällig daraufwarten, dass Iwan nach Hause kam.

Nachdem sie Galina Schaporina nicht zum Reden hatten bewegen können, bestand die Gefahr, mit leeren Händen aus Moskau zurückzukehren. Raisa war aus der Wohnung geschoben worden, und man hatte ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen. Sie hatte im Flur gestanden, umringt von Nachbarn, von denen viele vielleicht Informanten waren, und es war unmöglich gewesen, einen zweiten Versuch zu wagen. Vielleicht hatten Galina und ihr Mann schon die Staatssicherheit informiert, obwohl Leo das nicht für wahrscheinlich hielt. Galina glaubte offensichtlich, dass die sicherste Verhaltensweise war, sich aus allem herauszuhalten. Wenn sie Raisa und Fjodor zu denunzieren versuchte, bestand die Möglichkeit, dass sie sich selbst belastete oder Aufmerksamkeit auf sich zog. Doch das war nur ein schwacher Trost. Das Einzige, was sie bislang erreicht hatten, war gewesen, Fjodor und seine Familie für ihre Nachforschungen zu gewinnen. Leo hatte Fjodor eingeschärft, alle Informationen, auf die er möglicherweise stieß, an Nesterow zu schicken, da an Leo adressierte Post vermutlich abgefangen wurde. Trotzdem waren sie bei der Identifikation des Mannes, nach dem sie suchten, keinen Schritt weitergekommen.