Выбрать главу

»Arkadi ist von einem vorbeifahrenden Zug erfasst worden. Sein Tod war ein Unfall, ein schrecklicher Unfall.«

»Und warum war er dann nackt? Warum war sein Mund mit irgendeinem Dreck vollgestopft?«

Leo versuchte abzuschätzen, was er gerade gehört hatte. Der Junge war nackt gewesen? Seit wann das denn? Er schlug den Bericht auf. Der Junge wurde bekleidet aufgefunden.

Jetzt, wo er den Satz zum zweiten Mal las, kam es ihm schon komisch vor, dass so etwas explizit in einem Bericht erwähnt wurde. Aber da stand es: Der Junge war angezogen gewesen. Leo überflog das Dokument weiter. Da er mitgeschleift wurde, befand sich Erde in seinem Mund.

Leo klappte den Bericht zu. Der ganze Raum wartete. »Euer Junge wurde vollständig bekleidet aufgefunden. Es ist wahr, dass er Erde im Mund hatte. Aber er wurde immerhin von einem Zug mitgeschleift, da ist etwas Erde im Mund nichts Ungewöhnliches.«

Eine alte Frau stand auf. Die Jahre mochten sie gebeugt haben, aber ihre Augen waren noch ganz wach. »Wir haben etwas anderes gehört.«

»Das ist bedauerlich, aber ihr seid falsch informiert.«

Die Frau ließ sich nicht beirren. Offensichtlich war sie die treibende Kraft hinter diesen Spekulationen.

»Der Mann, der die Leiche gefunden hat, Taras Kuprin, war auf der Suche nach Feuerholz. Er wohnt zwei Straßen weiter. Er hat uns erzählt, dass Arkadi nackt war. Splitterfasernackt, verstehen Sie? Ein Zusammenprall mit einem Zug zieht einem Jungen nicht die Sachen aus.«

»Dieser Kuprin hat die Leiche in der Tat gefunden. Seine Aussage ist in der Akte. Er behauptet, dass die Leiche auf den Gleisen vollständig bekleidet war. Daran lässt er keinen Zweifel. Hier stehen seine Worte schwarz auf weiß.«

»Und warum hat er uns dann etwas anderes erzählt?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht war er durcheinander. Aber ich habe die Unterschrift des Mannes unter seiner Aussage, und diese Aussage ist Teil der Akte. Ich bezweifle, dass er, wenn man ihn jetzt fragen würde, etwas anderes zu Protokoll geben würde.«

»Hast du seine Leiche gesehen?«

Mit der Frage hatte Leo nicht gerechnet. »Ich bin nicht mit der Untersuchung betraut. Das ist nicht meine Aufgabe. Aber selbst wenn ich es wäre, da gibt es nichts zu untersuchen. Es ist ein schrecklicher Unfall. Ich bin gekommen, um mit euch zu sprechen, diese Dinge zu klären, die unnötig verkompliziert worden sind. Wenn ihr wollt, kann ich euch den gesamten Bericht laut vorlesen.«

Die Alte meldete sich wieder zu Wort. »Dieser Bericht ist eine Lüge.«

Alle zuckten zusammen. Leo gab keine Antwort und zwang sich dazu, die Ruhe zu bewahren. Diese Leute mussten kapieren, dass es hier keine Kompromisse gab. Sie mussten einlenken und einsehen, dass ihr kleiner Junge eines unglücklichen Todes gestorben war. Er wollte ihnen doch nur helfen. In Erwartung, dass er der Frau widersprechen würde, wandte sich Leo an Fjodor.

Fjodor machte einen Schritt auf ihn zu. »Leo, wir haben neue Hinweise. Hinweise, die erst heute ans Licht gekommen sind. Eine Frau, die in einer Wohnung wohnt, von der aus man auf die Gleise sehen kann, hat Arkadi mit einem Mann gesehen. Mehr wissen wir nicht. Sie ist keine Freundin von uns, und wir sind ihr noch nie begegnet. Aber sie hatte von dem Mord gehört ...«

»Fjodor!«

»Sie hatte von dem Tod meines Sohnes gehört. Und wenn es stimmt, was wir gehört haben, dann kann sie diesen Mann beschreiben. Sie wäre in der Lage, ihn wiederzuerkennen.«

»Wo ist diese Frau?«

»Wir warten schon die ganze Zeit auf sie.«

»Sie kommt hierher? Ich würde gern hören, was sie zu sagen hat.«

Man bot Leo einen Stuhl an, doch er wischte das Angebot mit einer Handbewegung beiseite. Er stand lieber.

Keiner sagte etwas, alle warteten nur auf das Klopfen an der Tür. Mittlerweile bedauerte Leo es, dass er das Angebot mit dem Stuhl nicht angenommen hatte. Es war schon fast eine Stunde vergangen, in der keiner einen Mucks von sich gegeben hatte. Endlich hörte man ein leises Klopfen an der Tür. Fjodor machte auf und führte die Frau herein. Sie mochte um die dreißig sein und hatte ein freundliches Gesicht, und als sie all die Leute sah, weiteten sich ihre Augen vor Nervosität. Fjodor versuchte sie zu beruhigen. »Das sind nur Freunde und Familienangehörige. Sie brauchen keine Angst zu haben.«

Aber sie hörte gar nicht zu, sondern starrte nur Leo an.

»Ich heiße Leo Stepanowitsch. Ich bin Beamter des MGB. Ich bin für diese Angelegenheit hier zuständig. Wie heißen Sie?« Leo zog seinen Notizblock hervor und schlug eine leere Seite auf.

Die Frau gab keine Antwort. Er warf ihr einen schiefen Blick zu, aber sie sagte immer noch nichts. Leo wollte schon seine Frage wiederholen, als sie endlich den Mund aufmachte. »Galina Scha-porina.«

Ein flüsterndes Stimmchen.

»Und was haben Sie gesehen?«

»Ich habe gesehen ...« Sie blickte sich im Zimmer um, dann zu Boden und verfiel wieder in Schweigen.

Fjodor gab ihr ein Stichwort, seine Stimme klang angespannt. »Sie haben doch einen Mann gesehen, oder?«

»Ja, einen Mann.«

Fjodor stand direkt neben ihr und hatte sie mit seinem Blick durchbohrt, jetzt seufzte er vor Erleichterung.

Die Frau fuhr fort. »Na ja, ein Mann also. Vielleicht ein Arbeiter, er war auf den Schienen. Ich hab ihn durchs Fenster gesehen. Es war schon dunkel.«

Leo tippte mit dem Federhalter auf seinen Notizblock. »Haben Sie einen kleinen Jungen bei ihm gesehen?«

»Nein, da war kein Junge.«

Fjodor fiel die Kinnlade herunter. Hastig sprach er auf die Frau ein: »Aber wir haben gehört, Sie hätten einen Mann gesehen, der meinen kleinen Jungen an der Hand hatte.«

»Nein, nein, da war kein Junge. Er hatte eine Tasche in der Hand, ich glaube, es war eine Werkzeugtasche. Ja, das muss es gewesen sein. Er hat auf den Schienen gearbeitet, hat vielleicht was repariert. Ich hab nicht viel mitgekriegt, nur einen flüchtigen Blick, mehr nicht. Ich weiß gar nicht, warum ich hier bin. Aber es tut mir sehr leid, dass Ihr Sohn tot ist.«

Leo klappte seinen Notizblock zu. »Ich danke Ihnen.«

»Wird es noch eine Befragung geben?«

Bevor Leo antworten konnte, umklammerte Fjodor den Arm der Frau.

»Aber Sie haben doch einen Mann gesehen!«

Die Frau entwand sich seinem Griff. Sie sah sich im Zimmer um, sah all die Blicke, die auf sie gerichtet waren. Dann wandte sie sich Leo zu. »Müssen Sie noch mal bei mir zu Hause vorbeikommen?«

»Nein, Sie können gehen.«

Die Frau eilte zur Wohnungstür und vermied dabei jeden Augenkontakt. Noch bevor sie dort angekommen war, rief die Alte ihr zu: »So schnell kriegst du es mit der Angst zu tun?«

Fjodor ging zu ihr hin. »Setz dich bitte.«

Weder entrüstet noch besänftigt antwortete sie: »Arkadi war dein Sohn.«

»Ich weiß.«

Leo konnte Fjodors Augen nicht sehen. Er fragte sich, was die beiden da im Geheimen miteinander ausmachten. Immerhin setzte sie sich hin. Galina Schaporina war währenddessen durch die Tür gehuscht.

Leo war erleichtert, das Fjodor interveniert hatte. Er hoffte, dass die Sache nun eine Wende nahm. Wenn man ihnen erst ungeschminkt die Auswirkungen ihrer Theorie klarmachte - immerhin hatten sie die Miliz der Lüge bezichtigt -, dann würden sie davor zurückschrecken und die Wahrheit akzeptieren. Fjodor stellte sich wieder neben Leo. »Vergib ihr. Sie ist sehr aufgeregt.«