Sie sah Wassili auf sich zukommen. Er führte einen älteren Mann, der gebückt ging. Als sie keine fünf Meter mehr entfernt waren, erkannte Raisa, dass es sich dabei um ihren Ehemann handelte. Sie starrte Leo an, fassungslos über seine Verwandlung. Er wirkte zerbrechlich, um zehn Jahre gealtert. Was hatten sie mit ihm angestellt? Als Wassili ihn losließ, befürchtete Raisa, er würde gleich zusammenbrechen. Sie stützte ihn und schaute ihm in die Augen. Er erkannte sie. Sie legte ihm die Hand aufs Gesicht und strich über seine Augenbraue. »Leo?«
Es kostete ihn Kraft zu antworten. Sein Mund zitterte, als er den Namen auszusprechen versuchte. »Raisa.«
Sie wandte sich zu Wassili um, der sich nichts von dem Schauspiel entgehen ließ. Sie war wütend über die Tränen in ihren Augen. Das hatte er gewollt. Sie wischte sie weg, aber es kamen immer neue.
Irgendwie war Wassili doch enttäuscht. Dabei konnte er sich nicht darüber beklagen, nicht genau das bekommen zu haben, was er sich immer gewünscht hatte. Das schon, und mehr. Aber irgendwie hatte er sich vorgestellt, dass sein Triumph, dessen Höhepunkt nun gekommen war, ihm mehr Befriedigung verschaffen würde. An Raisa gewandt sagte er: »Normalerweise werden Männer und ihre Ehefrauen voneinander getrennt. Aber ich dachte mir, vielleicht möchten Sie diese Reise ja gern zusammen unternehmen. Ein kleiner Beweis meiner Großzügigkeit.«
Natürlich waren das zynische, heimtückische Worte, aber anstatt ihm Befriedigung zu verschaffen, blieben sie ihm im Halse stecken. Auf sonderbare Art war er sich selbst der Erbärmlichkeit seines Handelns bewusst. Es war das Fehlen eines echten Gegners. Der Mann, den er so lange verfolgt hatte, war nur noch schwach, geschlagen und gebrochen. Aber anstatt sich stark und siegestrunken zu fühlen, kam Wassili sich vor, als sei er selbst in Mitleidenschaft gezogen worden. Er verwarf die Ansprache, die er sich zurechtgelegt hatte, und starrte Leo nur an. Was war das für ein seltsames Gefühl? Mochte er diesen Mann am Ende etwa? Unsinn. Er hasste ihn doch.
Raisa hatte diesen Blick schon einmal bei Wassili gesehen. Sein Hass hatte mit dem Beruf gar nichts zu tun. Er war davon besessen, geradezu fixiert. Wie jemand, dessen unerwiderte Liebe sich in etwas Hässliches verwandelt. Sie hatte zwar kein Mitleid mit ihm, aber vielleicht hatte sich früher einmal etwas Menschliches in ihm geregt. Doch da gab Wassili den Wachleuten schon ein Zeichen, und die bugsierten sie zum Zug.
Raisa half Leo in den Waggon. Sie waren die letzten Gefangenen, die man einlud, hinter ihnen wurde die Tür zugeschoben. Im Dämmerlicht fühlte sie Hunderte von Augenpaaren auf sich ruhen.
Wassili stand am Bahnsteig, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. »Sind alle Vorkehrungen getroffen worden?«
Der Wachmann nickte. »Sie werden beide ihr Ziel nicht lebend erreichen.«
100 Kilometer östlich von Moskau
12. Juli
Raisa und Leo hockten im hinteren Teil des Waggons. Seit sie eingestiegen waren, hatten sie diese Stelle nicht verlassen. Als die letzten Gefangenen hatten sie mit dem einzigen Ort vorlieb nehmen müssen, der noch übrig gewesen war. Die begehrtesten Plätze, grobe Holzbänke, die in drei verschiedenen Höhen an den Außenwänden entlangliefen, waren alle besetzt. Auf diesen Bänken, die kaum 30 Zentimeter breit waren, lagen bis zu drei Menschen so dicht aneinander, als würden sie miteinander verkehren. Aber da war nichts Sexuelles an dieser verängstigten Intimität.
Der einzige Platz, den Leo und Raisa noch gefunden hatten, war neben einem faustgroßen Loch, das man in den Holzboden gesägt hatte - der Abort für den gesamten Wagen. Es gab keine Abtrennung, keinen Sichtschutz, es blieb einem nichts anderes übrig, als in aller Öffentlichkeit zu urinieren oder sich zu erleichtern. Leo und Raisa hockten kaum einen halben Meter von dem Loch weg.
Anfangs hatte Raisa in dieser stinkenden Dunkelheit eine unkontrollierbare Wut verspürt. Ihre Entwürdigung war nicht nur ungerecht, sie war himmelschreiend, verrückt, von absichtlicher Bosheit. Wenn man sie zur Arbeit in diese Lager schickte, warum wurden sie dann verfrachtet wie Leute zur Exekution? Mittlerweile hatte sie sich diese Gedanken verboten. Wenn sie sich von ihrem Zorn leiten ließen, würden sie nicht überleben. Raisa musste sich an die Gegebenheiten anpassen. Sie erinnerte sich immer wieder daran: neue Welt, neue Regeln. Sie durfte ihre gegenwärtige Situation nicht mit der Vergangenheit vergleichen. Gefangene hatten keine Rechte und sollten auch keine Erwartungen haben.
Selbst ohne Uhr oder einen Blick auf die Außenwelt wusste Raisa, dass es schon Nachmittag sein musste. Das Blechdach wurde derart von der Sonne aufgeheizt, als würde das Wetter mit der Wachmannschaft kollaborieren und eine unerbittliche Hitze auf die Hunderte von Menschenleibern herabschicken, eine nicht enden wollende Pein. Der Zug fuhr in einem derartigen Schneckentempo, dass durch die schmalen Ritzen in der Holzverkleidung nicht das leiseste Lüftchen drang. Und selbst wenn es frische Luft gegeben hätte, wäre sie von den Gefangenen aufgesogen worden, die in der glücklichen Lage waren, auf den Bänken zu sitzen.
Aber wenn man sich erst einmal von seiner Wut verabschiedet hatte, hielt man sogar die unerträgliche Hitze und den bestialischen Gestank aus. Überleben hieß Anpassung. Einer der Gefangenen allerdings, ein Mann mittleren Alters, hatte ohne großes Aufheben beschlossen, sich den neuen Regeln nicht zu fügen. Raisa wusste nicht, wann genau er gestorben war. Niemand hatte etwas bemerkt, und falls doch, hatten sie nichts gesagt. Als der Zug am Abend zuvor angehalten hatte und alle für ihren Schluck Wasser ausgestiegen waren, hatte jemand gerufen, ein Mann sei tot. Raisa war an seiner Leiche vorbeigekommen. Der Mann hatte wohl entschieden, dass diese neue Welt nichts für ihn war. Er hatte aufgegeben, dichtgemacht, sich selbst abgeschaltet wie eine Maschine. Todesursache: Hoffnungslosigkeit. Mangelndes Interesse am Weiterleben, wenn dies alles sein sollte, wofür man überlebte. Seine Leiche wurde aus dem Zug geworfen, rollte den Bahndamm hinunter und war nicht mehr zu sehen.
Raisa schaute Leo an. Während der Fahrt hatte er die meiste Zeit über geschlafen, an sie geschmiegt wie ein Kind. Wenn er wach war, machte er einen ruhigen Eindruck, weder verstört noch aufgebracht, so als sei er mit seinen Gedanken ganz woanders. Er zog die Stirn in Falten, als versuche er etwas zu verstehen. Sie hatte seinen Körper nach Anzeichen von Folter abgesucht und an seinem Arm einen großen Bluterguss gefunden. An den Arm-und Beingelenken waren Riemenabdrücke. Man hatte ihn also gefesselt. Raisa hatte keine Ahnung, was er durchgemacht haben mochte, aber es war wohl eher eine psychologische und chemische Tortur gewesen, statt einfach nur ordinäres Zufügen von Wunden und Verbrennungen. Raisa hatte seinen Kopf gestreichelt und ihn geküsst, mehr Linderung konnte sie nicht anbieten. Sie hatte ihm seine Scheibe Schwarzbrot und sein Stückchen salzigen Trockenfisch geholt, das Einzige, was sie bislang zu essen bekommen hatten. Der Fisch war voller kleiner Gräten und so mit Salz überkrustet, dass einige der vollkommen ausgehungerten Gefangenen ihn einfach nur in der Hand behalten hatten, weil sie die Vorstellung nicht ertragen konnten, ihn ohne Wasser zu essen. Der Durst war noch schlimmer als der Hunger. Raisa hatte so viel Salz wie möglich abgekratzt und Leo dann mit kleinen Häppchen gefüttert.
Jetzt setzte Leo sich auf und sprach zum ersten Mal, seit sie in den Zug gestiegen waren. Er war kaum zu hören, und Raisa lehnte sich näher heran, um ihn zu verstehen. »Oksana war eine gute Mutter. Sie hat mich geliebt. Und ich habe die beiden verlassen. Habe beschlossen, nicht zurückzugehen. Mein kleiner Bruder wollte immer Karten spielen, und ich habe jedes Mal gesagt, ich hätte keine Zeit.«