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»Deshalb bin ich doch da. Damit wir in diesen vier Wänden über die Sache reden können. Was nicht sein darf, ist, dass es noch weiter Gerede gibt, wenn ich diesen Raum verlassen habe. Wenn jemand euch fragt, was mit eurem Sohn geschehen ist, dürft ihr nicht behaupten, dass er ermordet wurde. Und nicht etwa, weil ich es euch befehle, sondern weil es nicht wahr ist.«

»Wir verstehen.«

»Fjodor, ich möchte, dass du dir morgen einen Tag frei nimmst. Das ist bereits genehmigt. Wenn es sonst noch etwas gibt, was ich für dich tun kann ...«

»Nein, gar nichts.«

An der Wohnungstür schüttelte Fjodor Leo die Hand. »Wir sind alle schrecklich erregt. Bitte vergib uns diese Gefühlsausbrüche.«

»Wir lassen das unter den Tisch fallen. Aber wie gesagt, jetzt muss Schluss sein.«

Fjodors Gesicht spannte sich an. Er nickte. Als ob ihm die Worte bitter aufstoßen würden, presste er sie heraus: »Der Tod meines Sohnes war ein schrecklicher Unfall.«

Leo stieg die Treppen hinunter und atmete einmal tief durch. Die Atmosphäre da oben war zum Schneiden gewesen. Er war froh, dass er damit fertig und die Sache aus der Welt war. Fjodor war ein guter Mann. Zwar hegte er ganz offensichtlich noch seine Zweifel, aber das lag an der Trauer, die immer noch auf ihm lastete. Wenn er sich erst einmal mit dem Tod seines Sohnes abgefunden hatte, würde er auch die Wahrheit leichter hinnehmen können.

Leo blieb stehen. Hinter sich hörte er ein Geräusch. Er wandte sich um. Da stand ein Junge, höchstens sechs oder sieben Jahre alt. »Verzeihen Sie bitte, Genosse. Ich bin Jora Andrejew, Arkadis älterer Bruder. Kann ich mit Ihnen reden?«

»Natürlich.«

»Es ist alles meine Schuld.«

»Was ist deine Schuld?«

»Dass mein Bruder tot ist. Ich habe einen Schneeball nach ihm geworfen. Da waren ganz viele Steine und Dreck und Sand drin. Arkadi hat sich verletzt, ich habe ihn am Kopf getroffen. Dann ist er weggerannt. Vielleicht ist ihm von dem Schneeball schwindlig geworden, vielleicht konnte er deshalb den Zug nicht sehen. Der Dreck, den sie in seinem Mund gefunden haben. Da bin ich dran schuld. Ich habe ihn damit beworfen.«

»Der Tod deines Bruders war ein Unfall. Du brauchst gar kein schlechtes Gewissen zu haben. Aber es ist gut, dass du mir die Wahrheit gesagt hast. Jetzt geh wieder zu deinen Eltern.«

»Das mit dem Schneeball voller Dreck und Schlamm und Steinen habe ich ihnen nicht erzählt.«

»Vielleicht müssen sie das auch gar nicht erfahren.«

»Die wären so wütend auf mich. Weil es das letzte Mal war, dass ich ihn gesehen habe. Meistens haben wir friedlich miteinander gespielt. Und wir hätten uns auch wieder vertragen und wären wieder Freunde gewesen. Ganz bestimmt. Aber jetzt kann ich es nicht mehr gutmachen und nicht sagen, dass es mir leid tut.«

Leo hörte sich die Beichte des Kleinen an. Er wollte, dass man ihm verzieh. Der Junge hatte angefangen zu weinen. Verlegen tätschelte Leo ihm den Kopf und murmelte, so als sänge er ein Schlaflied: »Kei-ner konn-te was da-für.«

Das Dorf Kimow

160 Kilometer nördlich von Moskau

Am selben Tag

Seit drei Tagen hatte Anatoli Brodsky nicht geschlafen. Er war so müde, dass selbst die einfachsten Verrichtungen ihm Konzentration abverlangten. Das Scheunentor vor ihm war verschlossen. Er wusste, er würde es aufbrechen müssen, aber trotzdem kam ihm der Gedanke weit hergeholt vor. Er hatte einfach nicht die Kraft. Es hatte angefangen zu schneien. Anatoli schaute in den nächtlichen Himmel. Seine Gedanken schweiften ab, und als er endlich wieder wusste, wo er war und was er zu tun hatte, sammelte sich schon der Schnee auf seinem Gesicht. Er leckte sich die Flocken von den Lippen, und ihm wurde klar, dass er, wenn er dort nicht hineinkam, sterben würde. Er nahm sich zusammen und trat gegen die Tür. Die Scharniere klapperten, aber das Tor blieb zu. Er trat noch einmal zu. Holz splitterte. Das Geräusch ermutigte ihn, er sammelte seine letzten Kräfte für einen dritten Fußtritt, diesmal gegen das Schloss. Das Holz brach und das Tor schwang auf. Anatoli stand im Eingang, seine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlicht. Auf einer Seite der Scheune standen in einem Verschlag zwei Kühe, auf der anderen lagen Werkzeuge und Stroh. Er breitete ein paar grobe Säcke auf dem gefrorenen Lehmboden aus, knöpfte den Mantel zu und legte sich hin. Dann kreuzte er die Arme vor der Brust und schloss die Augen.

***

Von seinem Schlafzimmerfenster aus konnte Michail Zinowjew sehen, dass das Scheunentor offen stand. Es schwang im Wind hin und her und Schnee wirbelte in die Scheune. Er wandte sich um. Seine Frau lag im Bett und schlief. Er beschloss, sie nicht zu stören, zog sich leise den Mantel und die Fellstiefel über und ging hinaus.

Der Wind war stärker geworden, fegte lockeren Schnee vom Boden auf und peitschte ihn Michail ins Gesicht. Er hob die Hand und beschirmte die Augen. Während er sich der Scheune näherte, linste er durch seine Finger und sah, dass das Schloss aufgebrochen und das Tor eingetreten worden war. Er spähte hinein, und nachdem seine Augen sich an die Dunkelheit des Raumes gewöhnt hatten, erkannte er die Umrisse eines Mannes, der im Stroh auf dem Boden lag. Ohne zu wissen, was er eigentlich tun sollte, betrat Michail die Scheune, griff nach einer Mistgabel und näherte sich der schlafenden Gestalt. Er hielt die Zinken stoßbereit über den Bauch des Mannes.

Anatoli öffnete die Augen und sah nur Zentimeter vor seinem Gesicht auf schneebedeckte Fellstiefel. Er rollte sich auf den Rücken und blickte zu dem Mann hoch, der über ihm aufragte. Direkt über seinem Bauch befanden sich die Zinken einer Mistgabel, sie zitterten. Keiner der beiden rührte sich. Ihr Atem verwandelte sich vor den Gesichtern in einen Nebel, der hervorkam und wieder verschwand. Anatoli versuchte nicht, nach der Mistgabel zu greifen. Er versuchte auch nicht, sich vom Fleck zu rühren.

So verharrten sie wie eingefroren, bis Michail ein Schamgefühl überkam. Er sog durch die Zähne die Luft ein, als hätte eine unsichtbare Kraft ihm einen Hieb in den Magen versetzt, ließ die Mistgabel achtlos zu Boden fallen und sank auf die Knie. »Bitte vergib mir.«

Anatoli setzte sich auf. Das Adrenalin hatte ihn hellwach gemacht, aber sein Körper schmerzte. Wie lange hatte er geschlafen? Nicht lange. Nicht lange genug. Seine Stimme war heiser, die Kehle trocken. »Das verstehe ich schon. Ich hätte nicht herkommen sollen. Ich hätte dich nicht um Hilfe bitten sollen. Du musst an deine Familie denken. Ich habe dich in Gefahr gebracht. Ich bin es, der dich um Verzeihung bitten sollte.«

Michail schüttelte den Kopf. »Ich hatte Angst. Ich bin in Panik geraten. Verzeih mir.«

Anatoli warf einen Blick hinaus in die Dunkelheit und den Schnee. Jetzt konnte er nicht weg. Das würde er nicht überleben. Natürlich konnte er sich keinen Schlaf erlauben, aber trotzdem brauchte er ein Dach über dem Kopf. Michail wartete auf eine Antwort, auf Vergebung.

»Da gibt es nichts zu verzeihen. Dich trifft keine Schuld. Ich hätte vielleicht dasselbe gemacht.«

»Aber du bist mein Freund.«

»Ich bin immer noch dein Freund, und ich werde auch immer dein Freund bleiben. Hör mir zu. Ich will, dass du alles vergisst, was heute Abend passiert ist. Vergiss, dass ich je hier war. Vergiss, dass ich dich um Hilfe gebeten habe. Behalt uns in Erinnerung, wie wir früher waren. Behalt uns als beste Freunde in Erinnerung. Tu es für mich und ich tue dasselbe auch für dich. Sobald es hell wird, bin ich weg. Versprochen. Du wirst aufwachen und dein Leben ganz normal weiterleben. Ich versichere dir, niemand wird jemals erfahren, dass ich hier war.«