Leo half Raisa hoch und umarmte sie. »Es tut mir leid.«
Der Verwundete rief um Hilfe. Der erste Mann mit dem aufgeschlitzten Hals war bereits gestorben, aber der mit dem verletzten Bauch lebte noch. Er war bei Bewusstsein und hielt sich seine Wunde. Leo blickte auf ihn hinab und schätzte die Schwere der Verletzung ein. Sein Sterben würde lange dauern, es würde schmerzhaft und langsam vonstatten gehen. Gnade verdiente er nicht, aber wenn man es abwog, war es für die anderen Gefangenen besser, dass er schnell starb. Niemand hatte Lust, sich sein Geschrei anzuhören. Leo hockte sich hin, umklammerte seinen Hals und erwürgte ihn.
Als er wieder neben Raisa saß, flüsterte sie ihm zu. »Die Wachen haben ihnen gesagt, dass sie uns umbringen sollen.«
Leo dachte einen Moment darüber nach, dann antwortete er: »Unsere einzige Chance ist zu fliehen.«
Der Zug wurde langsamer. Wenn er anhielt, würden die Wachen die Tür öffnen und erwarten, dass Leo und Raisa tot waren. Wenn sie entdeckten, dass stattdessen zwei der Attentäter nicht mehr lebten, würden sie wissen wollen, wer sie umgebracht hatte. Irgendeiner der Gefangenen würde mit Sicherheit auspacken, entweder aus Angst vor Folter oder in der Hoffnung auf eine Belohnung. Damit hätten die Wachen Grund genug, Leo und Raisa hinzurichten.
Leo wandte sich an die anderen Gefangenen. Schwangere Frauen waren dabei, alte Männer, die die Gulags bestimmt nicht überleben würden, Väter, Brüder, Schwestern. Normale, unauffällige Leute, so wie er sie selbst früher verhaftet und in die Lubjanka gebracht hatte. Und jetzt musste er sie um ihre Hilfe bitten.
»Mein Name spielt keine Rolle. Bevor ich verhaftet wurde, habe ich die Mordfälle von über 40 Kindern untersucht, Morde vom Ural bis zum Schwarzen Meer. Jungen wie Mädchen. Ich weiß, dass ein solches Verbrechen schwer vorstellbar ist, einige von Ihnen halten es vielleicht sogar für unmöglich. Aber ich habe die Leichen selbst gesehen, und ich bin sicher, dass immer ein und derselbe Mann dahintersteckt. Er tötet die Kinder nicht wegen Geld oder Sex oder aus einem Grund, den ich erklären könnte. Er bringt einfach Kinder um, egal welche und egal aus welcher Stadt. Und er wird weiter morden. Mein eigenes Verbrechen war, dass ich gegen ihn ermittelt habe. Und meine Verhaftung bedeutet, dass er weiter töten kann. Niemand sonst ist hinter ihm her. Meine Frau und ich müssen fliehen, damit wir ihn aufhalten können. Aber ohne Ihre Hilfe können wir nicht fliehen. Wenn Sie die Wachen rufen, sind wir tot.«
Schweigen. Gleich würde der Zug halten. Jede Sekunde konnten die Türen aufgeschoben werden, und die Wachen würden mit gezückten Pistolen hereinkommen.
Eine Frau auf einer der Bänke rief: »Ich bin aus Rostow. Ich habe von diesen Morden gehört. Kinder, denen man den Magen herausgeschnitten hat. Sie schieben es auf eine Gruppe westlicher Spione, die unser Land infiltriert haben.«
Leo antwortete: »Ich glaube, dass der Mörder aus Ihrer Stadt kommt und auch dort arbeitet. Aber ich bezweifle, dass er ein Spion ist.«
Eine andere Frau rief: »Wenn Sie ihn finden, machen Sie ihn dann kalt?«
»Ja.«
Der Zug blieb stehen. Man konnte die Wachen näherkommen hören. Leo fügte noch rasch hinzu: »Ich habe keinen Grund, auf Ihre Hilfe zu rechnen. Aber ich bitte Sie trotzdem darum.«
Leo und Raisa hockten sich zwischen die anderen Gefangenen. Raisa legte die Arme um Leo und verbarg seine blutverschmierten Hände.
Als die Wachen die beiden Leichen fanden, verlangten sie eine Erklärung. »Wer hat sie getötet?«
Die Antwort war Schweigen. Leo beobachtete über die Schulter seiner Frau hinweg aus den Augenwinkeln die Wachen. Sie waren jung und gleichgültig. Leute, die Befehle befolgten, ohne sich Gedanken zu machen. Die Tatsache, dass sie Leo und Raisa nicht selbst getötet hatten, zeigte, dass sie keine Befugnis hatten. Es musste heimlich geschehen und durch Mittelsmänner. Ohne Anweisungen würden sie nichts unternehmen, dazu waren sie nicht entschlussfreudig genug. Lieferte man ihnen allerdings nur die kleinste Rechtfertigung, würden sie möglicherweise die Gelegenheit nutzen. Alles hing von diesen Fremden hier im Waggon ab.
Die Wachen fingen an zu schreien und hielten den Nächststehenden ihre Waffen an die Köpfe. Aber die Gefangenen sagten nichts. Die Wachen schnappten sich ein älteres Ehepaar. Die waren gebrechlich und würden schon reden. »Wer hat diese Männer umgebracht? Was war hier los? Redet!«
Einer der Wachleute hob seinen stahlkappenbewehrten Stiefel über den Kopf der Frau. Sie weinte, ihr Mann flehte, aber keiner von beiden antwortete auf die Frage. Ein zweiter Wachmann kam auf Leo zu. Wenn er ihn aufstehen hieß, würde er sein blutverschmiertes Hemd sehen.
Eines der übriggebliebenen Bandenmitglieder kam von seiner Bank und ging zu den Wachen. Es war derjenige, der Leo gesagt hatte, sie suchten keinen Streit. Sicher wollte er jetzt die Belohnung einstreichen, die man ihnen versprochen hatte. Doch statt-dessen rief er: »Lassen Sie sie in Ruhe. Ich weiß, was passiert ist. Ich sage es Ihnen.«
Die Wachen wandten sich von dem älteren Ehepaar und von Leo ab. »Rede.«
»Sie haben sich gegenseitig umgebracht. Wegen eines Kartenspiels.«
Leo begriff, dass die Weigerung der Bande, sie auszuliefern, einer gewissen perversen Logik folgte. Diese Männer waren zwar bereit, für einen geringen Vorteil zu vergewaltigen und zu morden, aber sie würden niemanden verpfeifen. Kein Spitzel zu sein war eine Frage der Ganovenehre. Wenn andere Urki, Mitglieder ihrer Verbrecherzunft, herausfanden, dass sie zum eigenen Vorteil Gefangene ans Messer lieferten, würde man ihnen das nie verzeihen. Wahrscheinlich würde man sie sogar töten.
Die Wachen tauschten einen Blick aus. Weil sie nicht wussten, was sie machen sollten, beschlossen sie, gar nichts zu tun. Sie hatten ja keine Eile. Die Reise nach Vtoraja Rechka an der Pazifikküste dauerte Wochen, da würden sich schon noch genügend Gelegenheiten ergeben. Sie würden weitere Befehle abwarten oder sich einen neuen Plan ausdenken.
Einer der Wachleute wandte sich an die Gefangenen im Waggon. »Zur Strafe laden wir die Leichen nicht ab. In dieser Hitze fangen sie rasch an zu verwesen und zu stinken, und dann werdet ihr schon sehen. Vielleicht redet ihr ja dann.«
Selbstzufrieden sprang er aus dem Waggon. Die anderen Wachleute folgten ihm. Die Tür wurde zugeschoben.
Nach einiger Zeit setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Ein junger Mann mit einer zerbrochenen Brille linste Leo durch das zersplitterte Glas an und fragte flüsternd: »Wie wollen Sie denn entkommen?«
Er hatte ein Recht, es zu erfahren. An ihrer Flucht hatten nun alle in diesem Waggon Anteil. Sie hingen alle mit drin. Statt einer Antwort hob Leo den Stahlsplitter. Die Wachen hatten vergessen, ihn wieder mitzunehmen.
220 Kilometer östlich von Moskau
13. Juli
Leo lag flach auf dem Boden und hatte den Arm durch das Loch gezwängt, das von den Gefangenen als Abort benutzt wurde. Mit dem Stahlsplitter schabte er die Eisennägel frei, mit denen die Holzbohlen am Waggon vernietet waren. Von innen war keiner der Nägel zu erreichen, sie waren alle von unten hereingeschlagen worden. Die einzige Möglichkeit heranzukommen war durch das kleine Loch, das kaum größer war als seine Faust. Er hatte dem toten Mann das Hemd ausgezogen und die Stelle, so gut es ging, gesäubert. Es war eher ein symbolischer Versuch gewesen. Um an die Nägel heranzukommen, musste er sein Gesicht seitwärts gegen das stinkende, mit Pisse und Scheiße beschmierte Holz drücken. Würgend und ohne etwas sehen zu können, fingerte er an den drei Eisennägeln herum, die er lediglich ertasten konnte. Splitter drangen ihm in die Haut. Raisa hatte vorgeschlagen, die Arbeit zu übernehmen, da ihre Hände und Handgelenke schmaler waren. Das stimmte zwar, aber dafür hatte Leo eine größere Reichweite, und wenn er seinen Arm so weit reckte, wie es nur ging, kam er gerade eben an alle drei Nägel heran.