»Er ist ja nicht gezwungen worden, uns zu helfen. Und ganz bestimmt kann er nicht zu seiner Familie und seinen Freunden zurück, wenn er uns verrät.«
»Er könnte doch eine Geschichte erfinden. Es gab eine Straßensperre. Wir sind geschnappt worden. Er hat noch versucht, uns zu helfen, aber da war nichts zu machen.«
»Was schlägst du also vor?«
»Beim nächsten Halt solltest du ihn überwältigen und fesseln und den Laster selbst fahren.«
»Ist das dein Ernst?«
»Die einzige Möglichkeit, wirklich absolut sicherzugehen, ist, dass wir den Wagen übernehmen. Dann hätten wir seine Papiere. Wir hätten unser Leben wieder selbst in der Hand. Wir wären wieder Herr der Lage. So sind wir doch hilflos. Wir wissen nicht mal, wo er uns hinbringt.«
»Du warst doch diejenige, die mir beigebracht hat, bei Fremden an das Gute zu glauben.«
»Dieser Mann ist nicht wie die anderen. Er kommt mir irgendwie ehrgeizig vor. Den ganzen Tag fährt er Luxusgüter durch die Gegend. Der muss sich doch denken, das will ich auch. Die schönen Kleider und die erlesenen Speisen. Dann wird ihm klar, dass wir die Gelegenheit sind. Er weiß, was wir wert sind. Und er weiß auch, welchen Preis er bezahlt, wenn er mit uns erwischt wird.«
»Ich bin der Letzte, der so etwas sagen sollte, Raisa, aber du redest über einen unschuldigen Mann. Einen, der offensichtlich sein Leben riskiert, nur um uns zu helfen.«
»Ich rede darüber, dass wir Rostow um jeden Preis erreichen müssen.«
»Aber genauso fängt es doch an! Du hast eine Sache, an die du glaubst. Eine Sache, für die es sich zu sterben lohnt. Und schon bald ist es auch eine Sache, für die es sich zu töten lohnt. Schon bald ist es eine Sache, für die man auch Unschuldige töten darf.«
»Wir müssen ihn ja nicht umbringen.«
»Doch, das müssen wir. Wir können ihn nicht einfach gefesselt am Straßenrand liegen lassen. Da wäre das Risiko doch noch viel größer. Entweder bringen wir ihn um oder wir vertrauen ihm. Raisa, genauso fängt es an. Diese Leute haben uns zu essen gegeben, uns Zuflucht geboten und uns durch die Gegend gefahren. Wenn wir uns jetzt gegen sie wenden und nur zur Sicherheit einen ihrer Freunde töten, dann wäre ich wieder genau derselbe Mensch, den du in Moskau so verachtet hast.«
Obwohl er sie nicht sehen konnte, spürte er, dass sie lächelte. »Hast du mir etwa auf den Zahn gefühlt?«
»Ich wollte nur ein bisschen plaudern.«
»Und, habe ich bestanden?«
»Das hängt davon ab, ob wir nach Schachty kommen oder nicht.«
Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Raisa: »Und was geschieht, wenn das hier vorbei ist?«
»Keine Ahnung.«
»Im Westen würden sie dich mit Kusshand nehmen, Leo. Sie würden dich beschützen.«
»Ich werde dieses Land niemals verlassen.«
»Selbst, wenn dieses Land dich umbringen will?«
»Wenn du überlaufen willst, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, dich auf ein Schiff zu bekommen.«
»Und du? Willst du dich etwa in den Bergen verstecken?«
»Sobald dieser Mann tot ist und du sicher außer Landes bist, werde ich mich stellen. Ich will nicht im Exil leben, unter Leuten, die mich eigentlich hassen und nur an meinen Informationen interessiert sind. Ich will nicht als Ausländer leben. Das kann ich einfach nicht. Es würde bedeuten, dass alles, was diese Leute in Moskau über mich behauptet haben, wahr wäre.«
»Ist das denn so wichtig?« Raisa klang verletzt.
Leo berührte ihren Arm. »Ich verstehe nicht, Raisa.«
»Ist das denn so schwierig zu verstehen? Ich will, dass wir zusammenbleiben.«
Einen Moment lang verschlug es ihm die Sprache. Dann sagte er: »Ich kann nicht als Verräter leben. Ich kann es einfach nicht.«
»Dann bleiben uns wohl noch etwa vierundzwanzig Stunden.«
»Es tut mir leid.«
»Wir sollten für uns das Beste daraus machen.«
»Und wie?«
»Wir sollten einander die Wahrheit sagen.«
»Die Wahrheit?«
»Wir haben doch alle beide bestimmt Geheimnisse voreinander. Ich weiß, dass ich welche habe. Du etwa nicht? Sachen, die du mir nie erzählt hast?«
»Doch.«
»Na gut, ich fange an. Ich habe früher immer in deinen Tee gespuckt. Nachdem ich von Sojas Verhaftung erfahren hatte, war ich mir sicher, dass du sie verpfiffen hattest. Also habe ich ungefähr eine Woche lang in deinen Tee gespuckt.«
»Du hast in meinen Tee gespuckt?«
»Ungefähr eine Woche lang.«
»Und warum hast du damit aufgehört?«
»Es schien dir nichts auszumachen.«
»Ich habe es nicht mal bemerkt.«
»Eben. Jetzt bist du dran.«
»Ehrlich gesagt ...«
»Das ist ja der Sinn der Sache.«
»Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass du mich geheiratet hast, weil du Angst hattest. Ich glaube, du hast mich ganz bewusst ausgesucht. Du hast es nur so aussehen lassen, als hättest du Angst. Du hast mir einen falschen Namen genannt, und ich habe dich trotzdem nicht in Ruhe gelassen. Aber ich glaube, dass du mich eigentlich ganz bewusst angepeilt hast.«
»Du meinst, ich bin eine ausländische Agentin?«
»Nein, das glaube ich nicht. Aber ich habe immer damit gerechnet, dass du Leute kennst, die für westliche Geheimdienste arbeiteten. Vielleicht hast du ihnen ja geholfen. Vielleicht war das dein Hintergedanke, als du mich geheiratet hast.«
»Das ist kein Geheimnis, das ist pure Spekulation. Du sollst mir deine Geheimnisse verraten. Tatsachen bitte.«
»Ich habe zwischen deinen Sachen einen Rubel gefunden. Eine Münze, die man auseinandernehmen konnte. Die dient zum Schmuggeln von Mikrofilmen. Sonst hat keiner so etwas.«
»Warum hast du mich nicht denunziert?«
»Ich konnte es nicht.«
»Leo, ich habe dich nicht geheiratet, um in die Nähe des MGB zu kommen. Ich habe dir die Wahrheit schon gesagt. Ich hatte Angst.«
»Und die Münze?«
»Die gehörte mir.« Ihre Stimme verlor sich, so als würde sie abwägen, ob sie weitererzählen sollte. »Ich habe sie nicht verwendet, um Mikrofilme zu schmuggeln. Als Flüchtling hatte ich immer eine Zyanidpaste dabei.«
Raisa hatte ihm noch nie von der Zeit erzählt, nachdem ihre Heimatstadt zerstört worden war. Die Monate unterwegs, die dunkle Zeit ihres Lebens. Nervös wartete Leo darauf, was er zu hören bekommen würde.
»Du kannst dir sicher vorstellen, was man mit den weiblichen Flüchtlingen damals gemacht hat. Die Soldaten hatten so ihre Bedürfnisse. Sie riskierten schließlich ihr Leben, da waren wir ihnen schon was schuldig. Wir waren ihre Belohnung. Einmal - es ist nämlich mehrmals vorgekommen - da hat es so wehgetan, dass ich mir etwas geschworen habe: Wenn es noch einmal passieren würde, wenn es auch nur danach aussähe, dann würde ich dem Kerl das Zeug zwischen die Zähne schmieren. Sie konnten mich umbringen, mich von mir aus aufhängen, aber vielleicht würden sie es sich danach gründlich überlegen, bevor sie das noch einer Frau antaten. Na ja, irgendwie wurde das dann mein Glücksbringer, denn seit ich die Münze bei mir trug, hatte ich nie wieder irgendwelche Schwierigkeiten. Vielleicht spüren Männer, wenn eine Frau Zyanid dabei hat. Die Verletzungen, die ich davongetragen hatte, ließen sich dadurch natürlich nicht mehr heilen. Medizin gab es ja keine. Deshalb kann ich keine Kinder bekommen, Leo.«
Leo starrte in die Dunkelheit, in die Richtung, wo seine Frau sitzen musste. Im Krieg waren die Frauen zuerst von den Besatzern und danach noch einmal von ihren Befreiern vergewaltigt worden. Als Soldat wusste er, dass die Armeeführung solche Vorkommnisse sanktioniert hatte. Das gehörte nun mal zum Krieg, und ein tapferer Soldat hatte sich schließlich eine Belohnung verdient. Manche Frauen hatten Zyanid benutzt, um sich angesichts der bevorstehenden Gräuel das Leben zu nehmen. Leo vermutete, dass die meisten Männer die Frauen vielleicht nach einem Messer oder einer Pistole abgesucht hatten, aber eine Münze wäre ihnen nicht weiter aufgefallen. Er knetete seine Hände. Was sollte er sonst schon tun? Sich entschuldigen? Sagen, dass er sie verstand? Er hatte diesen Zeitungsausschnitt eingerahmt und aufgehängt, stolz und ohne einen blassen Schimmer, was der Krieg für sie bedeutet hatte.