»Hol eine Schachtel«, sagte er zu seiner Tochter, und als sie gehorcht hatte, nahm er das Reptil vorsichtig aus dem Brutkasten und setzte es in das improvisierte Gefängnis.
Als er die Schachtel zum Haus trug, sah er zu dem Garten hinüber, wo er die Samenkörner von der Venus gesät hatte. Ein paar gelbe Keime waren aus der Erde gekommen. Kirth nickte zufrieden und kratzte sich am Kinn.
Mrs. Kirth, eine dicke, schlampige Frau, kam ihm entgegen. Sie war vorzeitig gealtert, ihr rundes Gesicht war von tiefen Falten durchzogen. Ein niedergeschlagener Ausdruck lag in ihren braunen Augen, die trotzdem noch verrieten, wie schön sie einmal gewesen war.
»Was hast du denn da, Jay?« fragte sie. »Das erzähle ich dir später. Bring mir eine Tasse Milch, Nora. Und ein Tropfglas oder so was Ähnliches.«
Hastig kam sie der Aufforderung nach, und Kirth fütterte das Reptil, das Milch zu mögen schien und gierig trank. Die kleinen, glänzenden Augen starrten den Farmer an, ohne zu blinzeln.
»Pa«, sagte das Mädchen, »es ist größer geworden. Viel größer.«
»Das ist nicht möglich«, erwiderte Kirth. »So schnell wächst kein Tier. Verschwinde jetzt und laß mich in Ruhe.«
Das winzige Wesen saß in seinem Gefängnis, trank durstig seine Milch, und in seinem fremdartigen, vom Nebel der Jahrhunderte umwölkten Gehirn begannen sich Gedanken zu regen. Die ersten schwachen Erinnerungen vibrierten. Erinnerungen an ein vorausgegangenes Leben, halb vergessen…
Kirths Tochter hatte recht gehabt. Das Reptil wuchs, auf abnorme Weise, beängstigend schnell. Am Ende des zweiten Tages maß es vom stumpfen Rüssel bis zum Spitz zulaufenden Schwanz sechs Zoll. Und nach einer Woche war es zweimal so groß. Kirth baute einen Käfig und war von heimlicher Freude erfüllt.
Ich kann es verkaufen, dachte er. An irgendeinen Zirkus. Ich werde eine Menge Geld dafür bekommen. Aber vielleicht wird es noch größer. Ich warte lieber noch ein paar Wochen.
In der Zwischenzeit hegte und pflegte er seine Venus-Pflanzen. Sie waren gewachsen, und die ersten Knospen zeigten sich. Sie waren so hoch wie Pappelrosen, hatten keine Blätter. Der dicke, hellgelbe Stiel war nur mit Knospen bedeckt, die bald aufblühen würden, wie Kirth hoffte.
Nach zwei Wochen war Kirths Garten ein Farbenparadies, und er ließ einen Fotografen kommen und Aufnahmen machen. Farbfotos, die er an mehrere Gartenbauinstitute schickte. Man zeigte sich sehr interessiert. Ein Reporter bekam Wind von der Sache und interviewte Kirth.
Kirth gab nur sehr vorsichtige Antworten und sprach von einer langwierigen Pflanzenzucht und verschiedenen Experimenten, die er gemacht hätte. Ja, es wäre eine neue Blumenart, und er hätte sie ganz allein gezüchtet. Ja, er hätte ein paar Samen, die er verkaufen würde.
Das Wrack des Raumschiffs war noch nicht gefunden worden. Und die Bestie saß in ihrem Stall und vertilgte enorme Mengen von Gemüse und Saufutter, das Kirth seinen protestierenden Schweinen weggenommen hatte, und trank alles, was man ihm vorsetzte. Ein Wissenschaftler hätte nur die Zähne der Bestie zu untersuchen brauchen, um festzustellen, daß sie ein Fleischfresser oder sogar ein Allesfresser war. Aber das wußte Kirth nicht, und die Bestie hatte offenbar nichts gegen den Speiseplan einzuwenden. Sie wuchs bemerkenswert schnell, und ihr Stoffwechsel ging so schnell vor sich, daß ihr schuppiger Körper eine beachtliche Hitze ausströmte.
Das Tier war nun so groß wie ein Pferd. Und es schien so sanftmütig zu sein, daß Kirth sich nicht vor ihm fürchtete, obwohl er vorsichtshalber immer einen Revolver bei sich trug, wenn er sich seinem bizarren Schützling näherte.
Die vagen Erinnerungen im Gehirn der Bestie regten sich von Zeit zu Zeit. Aber ein Faktor dominierte, überlagerte die Erinnerungen, lullte sie immer wieder in den Schlaf. Aus irgendeinem Grund wußte die Bestie, daß es wichtig war, möglichst schnell zu wachsen. Bevor sie etwas unternehmen konnte, mußte sie erst einmal ihre volle Größe erreicht haben. Und dann…
Die Bestie war intelligent. Sie besaß nicht die Intelligenz eines Kindes, sondern eher die eines von Drogen halbbetäubten Erwachsenen. Und sie war nicht von dieser Welt. Die fremdartige Chemie ihres Körpers schickte unbekannte Sekrete durch ihre Adern. Und während sie aß und trank, begann ihr fremdartiger Verstand zu funktionieren.
Die Bestie sammelte Erfahrungen, wenn sie jetzt auch noch keine Vorteile aus ihrem Wissen ziehen konnte. Durch die offenen Fenster des Farmhauses hörte sie die Gespräche der Kirths. Ihr Fernseher war oft eingeschaltet. Indem die Bestie die Menschen beobachtete, lernte sie ihre verschiedenen Stimmungen kennen und begann gewisse Klangfarben der menschlichen Stimmen mit diesen Stimmungen zu assoziieren.
Die Bestie lernte, daß manche Stimmungen von speziellen Grimassen begleitet wurden. Sie lernte Gelächter und Tränen verstehen.
Nur eines verstand sie nicht: den Ausdruck, der in den Augen von Mrs. Kirth und ihrer Tochter lag und manchmal auch in Kirths Augen, wenn sie in den Stall blickten. Dieser Ausdruck bedeutete Ekel und Abscheu, aber das wußte die Bestie nicht.
Langsam verstrichen zwei Monate. Kirth erhielt viele Schecks, die ihm per Post zugesandt wurden. Die neue Blume war sehr beliebt, und die Blumenhändler konnten gar nicht genug davon bekommen. Die Blumen waren schöner als Orchideen, und sie waren sehr widerstandsfähig. Auch wenn man sie abgeschnitten hatte, dauerte es lange, bis sie zu welken begannen.
Kirth war nicht raffiniert genug, um den Vertrieb der Blumen unter seiner alleinigen Kontrolle zu halten. Da sie in jedem Klima wuchsen und gediehen, wurden sie bald überall in den Staaten gezüchtet, von New York bis Kalifornien. Die neuen Blumenfelder bildeten einen Teppich der Schönheit, der sich über ganz Amerika ausbreitete. Die Blume wurde zu einem modischen Hit, und bald wurde sie auch nach Europa exportiert. Nach ein paar Monaten hatte sie einen solchen Gipfel der Beliebtheit erreicht, daß keine Dame der Gesellschaft mehr auszugehen wagte, ohne die Regenbogenblume an ihrem Kleid zu tragen, wie die Neuschöpfung genannt wurde.
Kirth hätte mit seinem ständig wachsenden Bankkonto zufrieden sein können, aber er hatte bereits mit mehreren Zirkusdirektoren Verbindung aufgenommen und ihnen gesagt, daß er ein Monstrum zu verkaufen hätte. Allmählich fühlte er sich unbehaglich in seiner Haut. Die Bestie wuchs und wuchs, und die Leute sahen schon ihren Schuppenrücken, wenn sie in ihrem Gehege auf und ab trottete. Kirth führte sie immer wieder in den Stall zurück, und sie folgte ihm auch bereitwillig. Aber das Quartier war ihr längst zu klein geworden. Ein Schlag mit dem mächtigen Schwanz, und der Holzschuppen würde zusammenbrechen. Keine sehr angenehme Vorstellung…
Kirths Unbehagen wäre noch gewachsen, hätte er gewußt, was im Gehirn des Monstrums vorging. Die Nebel lösten sich auf, als es rasch zu seiner vollen Größe heranwuchs. Die Erinnerungen kehrten zurück. Inzwischen verfügte Kirths Züchtung schon über einen beträchtlichen englischen Wortschatz.
Das war nur natürlich. Ein Kind lernt seine Muttersprache, indem es deren Wörter immer wieder hört. Es lernt die Sprache über Jahre hinweg mittels Assoziationen und Erinnerungen. Die Bestie war kein Kind, sie war ein hochintelligentes Wesen, und sie lernte innerhalb von Monaten das, wozu ein Kind Jahre braucht. Seit vielen Wochen war sie nun in engem Kontakt mit Menschen, und den nutzte sie, so gut sie konnte. Manchmal fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Manchmal hätte sie sich am liebsten damit begnügt, zu essen, zu trinken und zu schlafen, in einem angenehmen Wachtraum dahinzudämmern. Aber jedesmal, wenn ein solches Verlangen in ihr aufstieg, wurde sie von einer unerbittlichen inneren Stimme aufgerüttelt.
Es war so schwer, sich zu erinnern. Die Metamorphose, der sich das Monstrum unterzogen hatte, war nicht ohne Wirkung geblieben, hatte sein Fühlen und Denken bis zu einem gewissen Grad verändert. Aber eines Tages sah es durch einen Spalt in der Stallwand die Venusblumen, und in einem natürlichen Assoziationsprozeß dachte es an längst vergessene Dinge. Und dann brach ein trüber, grauer, regnerischer Tag an…